Woher wissen wir, daß ein Taschentuch kein
Aschenbecher ist? Weil wir unterscheiden. Und zum Unterscheiden müssen wir
negieren: »Taschentüchlein, du bist kein Aschenbecher!«
Ohne das Negieren blubberte alles, was
existiert, in ödem Brei grauer Indifferenz, bestimmungsloser Identität: Das
Taschentuch wäre ein Tischbein wäre ein Federmäppchen wäre eine Tastatur wäre
eine Zigarette wäre . . . Offensichtlich gelingt das Bestimmen überhaupt erst
vermittelst eines ständigen Negierens – »omnis determinatio est negatio«; und
nur darum gerät das Denken. Indes, wie könnte man negieren, wenn man nicht
vergliche?
Um negieren zu können, benötigen wir das
Vergleichen: Die Merkmale, die zusammen ein Taschentuch ergeben, sind nicht
dieselben wie jene, die eine Tastatur oder einen Slip ergeben. Um negieren zu
können, muß der Verstand bereits verglichen haben. Das Vergleichen dürfte mithin
die maßgebliche Operation sein, um zu differenzieren. Vergleichend gewinnen wir
differenzierte Vorstellungen; allein mittels des Vergleiches gestalten wir das
Inventar der Differenzen komplexer und raffinierter, um weiterzukommen beim
Begreifen dessen, was der Fall ist. Alles was existiert, ist bestimmt – und
deshalb nur über Negieren und Vergleichen erschließbar.
Vielleicht gibt es ein Absolutes, welches
sich dem Vergleichen entziehen will. Ist es somit unvergleichlich? Will man es
denken, muß man es von allem anderen Seienden begrifflich absondern. Dieses
Absondern setzt voraus, daß man es unterschieden hat. Man muß es also zuvor
schon verglichen haben mit allem Vergleichlichen. Wir kommen aus den Schranken
des logischen Bestimmens nicht heraus: Nicht einmal das Absolute ist
unvergleichlich.
Viele Intellektuelle und
Nichtintellektuelle beharren darauf, dieser Sachverhalt oder jenes Ereignis
seien unvergleichlich. Was richten sie an mit dieser Behauptung? Logisch gesehen
reden sie Unsinn. Aber wieso sehen sie sich genötigt, diesen Unsinn von sich zu
geben? Offensichtlich sind sie bemüht, bestimmten Sachverhalten einen Status
zuzumessen, den nicht einmal das Absolute erreichen kann – sie kreieren
Hyperabsolutes. Solcherlei geschieht, wenn es um Geltung und Tabuierung geht.
Die Hohenpriester des Unvergleichlichen beabsichtigen, diesem Hyperabsoluten
eine absolute Geltung zu verschaffen. Ob so etwas gelingt, hängt davon ab, wie
wuchtig die moralische Einschüchterung wirkt. Martin Walser sprach nicht zu
Unrecht von der Keule.
In der Tat, wer den Kopf aus dieser Grube
selbstverschuldeter Unvernunft heraushebt, riskiert einen moralischen Kopfschuß.
Daher die Furcht, den Kopf zu heben; diese
Intelligenzbegrenzung ist nicht ohne
Folgen geblieben. Wir haben uns angewöhnt –
weitgehend –, den Unsinn stehen zu lassen
und ihn für Sinn zu nehmen, als sei tatsächlich Sinn derjenige Unsinn, den man
läßt. Es ist bequem – für die wissenschaftlichen Karrieren, für den
publizistischen Erfolg und für die abgenickte Zustimmung im öffentlichen
Diskurs. Die Schwierigkeit, nein zu sagen, hat sich in eine neue Gestalt
verpuppt, obwohl sie dieselben Aufgaben stellt wie eh und je: zu negieren und zu
vergleichen, auch wenn das Bestimmen antiquiert, das Vergleichen verboten und
das Denken – auf jenem Territorium, über welches das Hyperabsolute seine
Jurisdiktion ausübt – zur asozialen Aktivität geworden ist.
Nichts ist unvergleichlich. Keine
Supernova, kein Husten, keine galaktischen Katastrophen, nicht die Schoah, nicht
mein Räuspern in dieser Sekunde, nicht der Schleim in meinem Halse.
Notwendigerweise ist in der Welt der Erscheinungen alles »relativ«, nichts
absolut. Nicht einmal in der intelligiblen Welt sind die Ideen selber absolut,
denn sie stehen in Beziehung zu anderen Ideen; und diese Bezogenheit macht sie
relational. Und die Relationalität unterwirft alles Existierende der
Relativierung. Wer relativiert, leugnet nicht, sondern erfüllt seine
wissenschaftliche Pflicht, das Existierende in Beziehungen zu setzen. Einen
Vorgang oder eine Sache zu verabsolutieren, heißt sie von ihren Kontexten zu
isolieren, aus ihrer relationalen Einbettung herauszureißen, heißt der
Wissenschaft zu verbieten, sie als Gegenstände zu behandeln. So lassen sie sich
sakralisieren und sogar vergotten. Dann kann man nur noch andächtig den Kopf
senken und beten, anstatt die Augen zu öffnen und das Gehirn anzustrengen.
Unvergleichlichkeit zu postulieren – im
öffentlichen Raum, wo das »logon didonai« der
Griechen so lange gilt, bis wir in die
finsterste Barbarei zurückgesunken sind –, heißt die intellektuelle Welt zu
terrorisieren: Damit invadiert eine religiöse Sprache und eine religiöse Haltung
die Welt des Wissens und des Prüfens und maßt sich an, in dieser Welt des Logos
die Position des Richters einzunehmen. Wer mit diesem vorandröhnenden Postulat
durch die wissenschaftliche Landschaft marschiert, treibt das Denken mit dem
moralischen Granatwerfer zurück in jene selbstgegrabenen Gruben, aus denen die
Vernunft sich immer wieder freikämpfen muß.
Welches Recht hatten die katholischen Bischöfe bei ihrem Israelbesuch, die Lage
der Palästinenser in Ramallah mit dem Warschauer Ghetto zu vergleichen? Alles
Recht der logischen und wissenschaftlichen Welt. Denn das Vergleichen führte
genau dahin, wohin alles Vergleichen – methodisch sauber durchgeführt – gehen
muß: Radikal different ist die Situation eines Ghettos, in dem Menschen
konzentriert werden, um sie der Vernichtung entgegenzuleiten, von jener
Situation einer Bevölkerung, die von ihren militanten Organisationen und von
ihren arabischen Brüdern der Nachbarstaaten künstlich in einem Zustand gehalten
wird, der sie prädestiniert zum hochaggressiven Potential gegen den jüdischen
Staat und dessen Existenzrecht, einsetzbar und einsatzwillig, den Dschihad zu
führen, bis die heilige islamische Erde gereinigt ist von diesem
imperialistischen Eindringling.
Nie hat irgendeine israelische Regierung
die Vernichtung der Palästinenser auch nur erwogen. Umgekehrt muß der jüdische
Staat ständig leben mit den Vernichtungsdrohungen der islamischen, insbesondere
der arabischen Welt und nicht zuletzt einiger derjenigen militanten
Organisationen, welche in Ramallah das Sagen haben. Keiner der Bischöfe hat
diesen Unterschied bezweifelt. Gerade das Vergleichen hat diesen heilsam ins
Bewußtsein zurückgerufen.
Der terroristische Aufschrei gegen ihr Vergleichen sollte alarmieren. Denn
dieses Denkverbot ist schlimmer als der terroristische Sturmlauf fanatisierter
muslimischer Massen gegen die dänischen Karikaturen. Dieser kostete siebzig
Menschen das Leben. Aber jenes umzäunt nicht bloß ein beträchtliches Gelände des
20. Jahrhunderts mit einem Tabu, es zur intellektuellen Sperrzone erklärend, in
der die Hohenpriester des Hyperabsoluten warnungslos moralische Todesschüsse
abgeben dürfen. Es entlegitimiert eine Grundoperation des begrifflichen Denkens
und verfemt ihre nur dem Begriff verpflichtete Anwendung.
»Wer vergleicht, bestreitet das
Einzigartige« – so lautet der Kernsatz des moralischen Terrors. Es gibt keinen
dümmeren Satz. Wie wollen die Hohenpriester denn wissen, warum etwas Bestimmtes
singulär ist? Rein logisch ist alles Existierende singulär, weil die Bedingungen
des Existierens für zwei Dinge unmöglich dieselben sein können, ja weil diese
Bedingungen sich für ein und dasselbe Ding bereits geändert haben, während ich
diesen Satz schreibe. Doch wenn ich wissen will, in welcher Hinsicht etwas
singulär ist, dann komme ich nicht umhin zu vergleichen. Wer wird bestreiten,
daß das Warschauer Ghetto »singulär« war? Aber jede einzelne Krankheit meines
Großvaters war es ebenso. Sogar der Rotz in meinem Taschentuch ist singulär;
denn in der Geschichte unseres Weltalls werden sich die chemische
Zusammensetzung und die molekulare Konstellation dieser unappetitlichen Substanz
nie mehr wiederholen.
Alles, was existiert hat und jemals
existieren wird, ist singulär. Singularität ist kein Privileg, sondern die
banalste Bestimmung überhaupt. Dumm ist der obige Satz eben aus diesem Grunde:
weil er das belangloseste Prädikat zu einem Privileg erheben will.
Als Deborah Lipstadt erklärte, die
»Einzigartigkeit« der Schoah zu leugnen, sei eine Weise, die Schoah selber zu
leugnen, hat sie die religiöse Dimension des Tabuierens offen ausgesprochen:(1)
Wenn das Signifikante an der Schoah ihre Singularität war, dann wäre die Schoah
der banalste Vorgang überhaupt. Das meint sie anscheinend nicht. Was sie sagt,
meint sie nicht; und was sie meint, kann sie nicht sagen. Das passiert, wenn man
etwas behauptet, was nur behauptbar ist, sofern man die »zwingende Gewalt der
Vernunft« einem gewalttätigen Zwang über die Vernunft unterwirft. Lipstadt zielt
auf die radikale, alle Kontexte sprengende Unvergleichlichkeit; so wird aus der
Schoah ein sakrales Geschehen, das höchstens der Offenbarung Gottes am Berg
Horeb gleichkommt.(2) Das geht eben nur gegen die Logik und die Vernunft. Daher
greifen alle, die ihr folgen oder beistehen, zum moralischen Terror.
Der moralische Terrorismus ist eine
logische Konsequenz einer grundsätzlich skeptischen Einstellung zu den sozialen
und politischen Vorgängen. Eben weil der Skeptiker der wissenschaftlichen
Wahrheit und den Methoden des Bewahrheitens nicht traut, verfügt er über keine
Mittel, das Sagbare vom Unsäglichen zu unterscheiden und verfemt die
wissenschaftlichen Mittel, welche das sehr wohl vermögen. Dann freilich bleibt
nichts anderes übrig, als mit moralischen Tabus das Für-wahr-zu-Nehmende zu
erzwingen. Das wird nicht gutgehen.
Wer das wissenschaftliche Feld dergestalt
zu einem Gelände vorsätzlich geführter
semantischer Kämpfe zur Unterdrückung
macht, hat den Weg des politischen Machtkampfes, letztlich des Terrors gewählt.
Wer das tut, darf sich nicht wundern, daß andere Kulturen, die weit weniger
Bedenken haben, das wissenschaftlich Wahre dem religiös Gewissen zu unterwerfen,
mit brachialer Gewalt zurückschlagen und das Verabsolutierte höhnisch und
herausfordernd leugnen. Das ist die unvermeidbare nietzscheanische Konsequenz:
Wer die Historie als wissenschaftliche Praxis dem kulturellen Gedächtnis der
eigenen Gruppe aufopfert, hat keinen gemeinsamen Boden mehr, auf welchem
diskursiv mit rivalisierenden Interpretationen zu streiten wäre. Ohne
gemeinsamen diskursiven Boden entscheidet die politische Macht darüber, was als
wahr zu gelten hat. Und das heißt letztlich: Die Gewalt entscheidet.
Jener moralische Terror fordert unentwegt
seine Opfer. Erinnern wir uns. Elie Wiesel hat stets bestritten, daß die
Vernichtung der Armenier als Genozid gelten darf. Und 1984 behauptete Lucy
Dawidowicz in Was the Holocaust Unique?, es handle sich bei den Armeniern schon
deswegen nicht um einen Genozid, weil die Türken »a rational reason« hatten, die
Armenier zu vernichten, wogegen »the Germans had no rational reason for killing
the Jews«. Wer »rationale Gründe« bei der Vernichtung hat, begeht also keinen
Völkermord. Der logische nächste Schritt besteht darin, die Schmerzen brennender
Kinder als »nicht gleichwertig« zu qualifizieren, wenn es sich um Kinder eines
angreifenden Staates handelt.
Erinnern wir uns. Nach Lévi-Strauss ist
der Rassismus in allen Kulturen latent anwesend und folgt, obschon er
tausenderlei verschiedene Gestalten anzunehmen vermag, in einer Hinsicht immer
derselben Logik: dem anderen einen vergleichbaren Grad von Menschlichkeit
abzusprechen. Vergleichbare Grade von Menschlichkeit stehen als Einsatz auf dem
Spiele, das der moralische Terror gegen den vergleichenden Logos spielt.
Anmerkungen
1.
Mit Recht wehrt sich Deborah Lipstadt
gegen die Zumutung, sich mit den Leugnern ernsthaftauseinandersetzen zu sollen.
Indes, sie hat in ihrem Aufsatz Holocaust-Denial and the Compelling Force
of Reason in Patterns of Prejudice (Nr. 1/2, 1992) erklärt, eine Haltung, die
zur Leugnung der »Uniqueness« der Schoah führe, sei »far more insidious than
outright denial. It nurtures and is nurtured by Holocaust-denial«. Da es um die
Singularität nicht gehen kann, denn alles, was existiert, ist singulär, geht es
darum, mit Hilfe der Kategorie »Einzigartigkeit« eine spezifische Singularität
zu postulieren, die das methodische Vergleichen als Operation wissenschaftlicher
Erkenntnis verbietet. Das Vergleichen als Modus des Leugnens zu diffamieren,
heißt eine Singularität zu beanspruchen, die als sakrale jenseits des
methodischen Forschens menschlicher Vernunft steht.
2.
Wohl niemand hat so konsequent wie Elie
Wiesel die Schoah aus dem kontextuellen Verlauf der Geschichte herausgebrochen,
um ihr den Status einer Antioffenbarung zuzusprechen. Daher auch sein Beharren
auf der Unerzählbarkeit: »But there is one tale that will never betold. And soon
we will not even know its name. Nor its secret«, so Eli Wiesel in dem Aufsatz
Art and Culture After the Holocaust. (In: Eva Fleischer (Hrsg.), Auschwitz.
Beginning of a New Era? New York: KTAV 1977.) Doch diese Unerzählbarkeit von
Erlittenem ist eine allgemeine Signatur traumatischer Erfahrungen – sei es von
Kollektiven oder von Individuen –, welche sich auf abertausendfache Weise in der
menschlichen Geschichte zugetragen haben.
Quelle: Merkur, Nr. 701, Oktober 2007