Organspende
„Das war ein katastrophaler
Ausbau von Ersatzteilen“
19.08.2013 · Vor
15 Jahren nimmt eine Ärztin zum ersten Mal an einer
Organentnahme teil. Die Operation missrät vollkommen. Die
Ärztin träumt bis heute davon.
Das Erlebnis, über das wir
sprechen wollen, hat stattgefunden, als Sie Ihr Studium gerade
abgeschlossen hatten und im zweiten Jahr der
Facharztausbildung waren.
Ja. In der Anästhesie. Das war meine
Wunschstelle, und ich war sehr stolz auf den Job. Im
Vorstellungsgespräch hatte der Chef zu mir gesagt: Wir bilden
die Medizinelite aus. Das war in einer großen Klinik, die auch
von Rettungshubschraubern angeflogen wurde, weil sie einen
Schockraum hatte. Dort werden Schwerstverletzte versorgt,
meistens Unfallopfer. Ich hatte als Anästhesistin gemeinsam
mit einem erfahrenen Kollegen Bereitschaftsdienst für den
Schockraum, als eine Patientin eingeliefert wurde.
Was war der Frau passiert?
Sie hatte einen Motorradunfall gehabt. Sie
wurde mit einer Hirnblutung eingeliefert, die anfangs gar
nicht so problematisch erschien. Wir haben sie erstversorgt
und auf die Intensivstation gebracht. Ich habe dann mit der
Mutter gesprochen. Das habe ich immer so gemacht. Die Leute
wollen ja wissen: Wie geht es meiner Tochter?
Wie ging es ihr?
Sie hatte ein Schädelhirntrauma.
Wahrscheinlich ist sie mit dem Kopf aufgeschlagen, so wurde
eine Hirnblutung ausgelöst. In den Tagen darauf hat sich ihr
Zustand dann sehr verschlechtert. Sie hat eine
Hirnmassenblutung gekriegt.
Hatten Sie in der Phase Kontakt zu
der Patientin?
Ja. Eigentlich blieb so eine Patientin nicht
in meinem Zuständigkeitsbereich. Ich hab sie auf die
Intensivstation übergeben, und normalerweise wär’s das
gewesen. Aber manchmal, wenn auf der Intensivstation
Transporte notwendig werden, für Computertomographien oder so,
wird aus der Bereitschaft ein Arzt gebeten, den Patienten zu
transportieren. So kam das dann. Und ich hatte dann auch im
Rahmen der Hirntoddiagnostik mit ihr zu tun.
Die haben Sie durchgeführt?
Nein, aber ich war dabei, als ein Oberarzt
die durchgeführt hat. Der hat mich mitgenommen, um mich an den
Prozess heranzuführen. Nachdem beide Fachärzte die
Hirntoddiagnostik abgeschlossen hatten, bin ich mit dem
Oberarzt zu den Eltern gegangen.
Die hatte man einbestellt.
Ja, um ihnen die Diagnose mitzuteilen. Aber
das musste nicht ich machen, das hat der Oberarzt gemacht. Der
hat dann auch sofort das Gespräch bezüglich der Organentnahme
mit den Eltern geführt. Das ist normal, aber trotzdem, man
muss sich das mal vorstellen. Da standen also die Leute, die
kriegten erst mal gesagt: „Ihre Tochter ist hirntot.“ Und dann
sollten sie im nächsten Moment entscheiden, ob sie die Organe
freigeben. Dieses Gespräch mit den Eltern wurde in dem Zimmer
geführt, in dem auch die Tochter lag. Da lag die Tochter,
deren Herz schlug, die beatmet wurde, und neben ihr standen
die Eltern, völlig überfordert.
Und der Oberarzt und Sie.
Ja. Die Eltern waren zögerlich. Der Oberarzt
hat dann gesagt: „Ihrer Tochter nützen die Organe nichts mehr.
Jemand anders kann mit den Organen aber weiterleben. Überlegen
Sie sich das doch, ich komme in einer halben Stunde wieder
vorbei.“ Ich habe das damals als ganz normal empfunden. Ich
glaube, die meisten im Medizinbetrieb wundern sich darüber
nicht, dass man so vorgeht.
Die Eltern haben dann eingewilligt.
Ja.
Was wäre passiert, wenn die Eltern
nein gesagt hätten?
Das weiß ich nicht.
Kommt das vor in solchen Situationen?
Ja. Die Ärzte können an der Stelle auch nichts
ändern. Das Wort der Eltern gilt. Allerdings müssen Sie sich
auch vorstellen, dass es eine Bindung gibt zwischen dem Arzt und
den Angehörigen. Die Tochter war ja nicht mal kurz auf der
Intensivstation und dann plötzlich hirntot. Es kommt zu einer
Vertrauensbindung zwischen den Eltern und den Ansprechpartnern
auf der Station. Wenn die Klinikangestellten in den Techniken
der Gesprächsführung bewandert sind, dann kriegen sie jemand
Unsicheren auch dazu, zuzustimmen. Das Argument, dann leben
zumindest die Organe weiter, sticht auf den ersten Blick doch
auch. Man wünscht sich doch, dass die Tochter weiterlebt. Und
wenn dann schon nicht die Tochter weiterleben kann, dann doch
vielleicht wenigstens ihr Herz.
Während die Eltern am Bett der
Verletzten zurückblieben, haben Sie aber irgendwas anderes
gemacht.
Wir haben irgendwas koordiniert, für die
möglicherweise bevorstehenden Organtransporte.
Das passierte schon, bevor die
Entscheidung der Eltern gefallen war?
Ja. Gewisse Planungen laufen parallel, damit
es gleich losgehen kann, wenn die Einwilligung kommt. Wenn sie
nicht kommt, muss man halt alles absagen. Pech gehabt.
Das setzt die Ärzte unter Druck, oder
nicht?
Ja, ist doch klar. Wenn man dann kommt und
sagt, die haben nein gesagt, steht man da wie der
Spielverderber.
Merken die Angehörigen nicht, dass um
sie herum schon dieser Apparat heißläuft?
Die haben doch normalerweise keine Erfahrung
mit so etwas. Die können das ja auch nicht sehen, dass da zum
Beispiel schon ein paar Blutprodukte mehr in die Patientin
hineinlaufen.
Was für Blutprodukte?
Da wurde ja noch mal alles gegeben an
Blutkonserven, an Plasma, an Konzentraten, an vorbereitender
Therapie. Sozusagen eine Vorintensivstation schon für den
Empfänger.
Wird den Angehörigen mitgeteilt, dass
man mit dem Patienten Dinge macht, die nur der Vorbereitung
einer Explantation dienen?
Nein. Also, ich habe das zumindest nie erlebt.
Muss man wohl nicht.
All das, bevor die Eltern überhaupt
gesagt haben: Wir entscheiden für unsere Tochter, dass sie
Spenderin wird.
Ach, da ist doch ganz viel schon vorher
gelaufen. Das hat mich dann auch irritiert, zumindest im
Nachhinein. Ich habe da erstmals erlebt, wie gierig man auf die
Organe war. Es ging bei der Patientin um ein Leber-Herz-Paket.
Schon in der Morgenbesprechung wurde gesagt: „Heute wird
Medizingeschichte geschrieben.“ Weil man so eine Paket-OP an den
beiden beteiligten Krankenhäusern noch nie gemacht hatte. Und
das wurde schon gesagt, bevor die Diagnose Hirntod überhaupt
bestätigt worden war. Na ja, die gingen eben fest davon aus,
dass die Patientin hirntot war, und das wurde dann ja auch
bestätigt.
Was ist das genau, ein
Herz-Leber-Paket?
Bei manchen Lebererkrankungen leidet auch das
Herz. Der Empfänger braucht dann beide Organe gleichzeitig. Das
ist nicht so häufig. Und dass man dann jemanden findet, der
beides spenden kann, ist selten. Deswegen war das ja so eine
besondere OP.
Warum fanden Sie das denn nicht
einfach toll, dass jetzt eine Chance da war für Sie,
Medizingeschichte mitzuschreiben?
Ich fand es toll! Zu dem Zeitpunkt habe ich
das ja gar nicht hinterfragt. Ich glaube, das erste Mal, wo ich
mich gewundert habe, wo ich irritiert war, das war im OP. Da
waren so viele Menschen. Ständig klingelte das Telefon, weil
parallel zur Entnahme ja auch koordiniert werden musste,
durchgegeben werden musste, wie es steht. Das fand ich so
würdelos. Ich stand noch unter dem Eindruck der Eltern, die die
Patientin bis zur Schleuse begleitet haben. Wie die sich von
ihrer Tochter liebevoll verabschiedet haben. Ich hatte das
Gefühl, dass die Eltern ihre Tochter mir übergeben hatten. In
dem Wissen, dass sie danach ... wirklich tot ist. Mir haben die
Eltern leidgetan. Ich habe mit denen richtig mitgefühlt.
Was haben Sie mit denen gefühlt?
Deren Trauer.
Hatten Sie selbst schon Kinder?
Nein. Ich war 27, eigentlich auch viel zu
jung, um so eine Situation verstehen und aushalten zu können. Im
Nachhinein glaube ich, ich habe mit der Verantwortung auch die
Trauer der Eltern übernommen und einfach extrem mitgefühlt. Aber
man merkt das nicht so richtig, es wird einem nicht bewusst,
weil man so eingebunden ist in die Abläufe.
Was war Ihre Aufgabe bei der OP?
Ich war mit der Dokumentation befasst. Wann
die Patientin an welche Medikamente, Transfusionen und so weiter
angeschlossen wird. Das ging auch sofort los. Es muss alles
angeschlossen werden, das dauert so eine halbe Stunde, und dann
müssen vorbereitende Sachen gespritzt werden für den
Stoffwechsel. Und dann beginnt die eigentliche Explantation, bei
der verschiedene Teams parallel arbeiten. Damals wurde parallel
an Herz und Leber gearbeitet.
Das medizinische Novum.
Ja. Und dann kam es zu Komplikationen. Es gab
Schwierigkeiten bei der parallelen Präparation der Organe. Eine
normale Reaktion auf diese Schwierigkeiten wäre gewesen, dass
man sagt: „Moment. Stop. An dieser Stelle müssen wir dann sagen,
wir können dieses Paket nicht als Paket explantieren. Wir
verzichten auf die Sensation, und einer bekommt das Herz, und
ein anderer bekommt die Leber.“ Aber das hat man nicht getan.
Hat Sie das geärgert?
Ich glaube, die ganze OP hätte in mir nicht
solche Folgen ausgelöst, wenn ich die Ärzte nicht als so geil
auf dieses Paket erlebt hätte. Durch dieses Fixierte kam es dann
zu der Katastrophe. Zumindest aus meiner Sicht heute. Vielleicht
wäre es auch schiefgegangen, wenn man die Organe getrennt
explantiert hätte. Aber diese Option wurde gar nicht verfolgt.
So kam es zu dieser Blutung im Leberbett.
Was passierte da?
Mit jedem Herzschlag strömte das Blut raus.
Sie müssen sich vorstellen: Sie haben da einen OP-Tisch mit
einem Körper, der ist vom Hals bis knapp über dem Schambereich
völlig geöffnet, und das Blut läuft Ihnen links und rechts vom
Tisch runter. Literweise. Eine groteske Situation. Und es gab
dann auch Streit im OP. Weil die Organe ja verloren waren in dem
Moment, in dem die Patientin reanimationspflichtig wurde, weil
diese Blutung nicht zu stoppen war. Ein angeschocktes Herz, das
defibrilliert wurde, das kann man nicht transplantieren, und die
Leber dann auch nicht.
Sie sprechen von Reanimationspflicht
bei einer bereits hirntoten Person?
Ja. Das Herz hatte vor der Entnahme aufgehört
zu schlagen. Also gab es Streit. Die Operateure haben uns
Dilettantismus vorgeworfen. Die Stimmung war so geladen, es
hätte beinahe eine Schlägerei gegeben. Da ist dann ein anderer
Operateur reingekommen und hat gesagt: „Jetzt lasst mal, ist ja
gut, das ist pietätlos.“ Und da die Patientin dann eh tot war,
sind wir als Anästhesisten auch abgetreten. Es hat dann noch von
einem anderen Team die Explantation der einen Niere
stattgefunden, und ich glaube, die Augenkliniker haben die
Hornhaut explantiert.
Das war für Sie ein Wendepunkt.
Das war ein katastrophaler Ausbau von
Ersatzteilen.
War das ein visueller Schock?
Ich hatte bei anderen Operationen auch Blut
gesehen, aber nie diese Mengen. Wir haben ja noch literweise
Transfusionen gegeben, um das irgendwie zu halten. Der ganze OP
schwamm. Die OP-Pfleger hatten Gummistiefel an. Und dieser
ausgeweidete Körper. Das hat mich sehr schockiert. Diese
Stresssituation mit dem ständigen Telefongeklingel, die vielen
Menschen, die dabei waren. Und der Geruch! Wenn ein Körper
aufgesägt wird, dieser Brandgeruch, die Knochenspäne, die
besonders riechen, und dann darüber dieses Blut. Das war echt
elend.
Hatten Sie die Eltern sozusagen mit
dabei in Ihrer Empfindungswelt?
Nein, da nicht. Da war ich nur am
Funktionieren. Ich hab mich nur über diesen jungen Kollegen, der
die Blutung verursacht hatte, total aufgeregt. Weil er so
selbstgefällig war, das völlig in Ordnung fand, dass diese
Organe verloren worden sind.
Das Ganze, was Sie da erzählen, das
kann man doch nur machen, wenn die Angehörigen nicht dabei sind,
oder?
Um Gottes Willen. Wenn einer der Angehörigen
jemals so eine Explantation sehen würde und würde darüber
sprechen oder es würde im Fernsehen gezeigt, dann gäbe es keine
Einwilligungen mehr zur Organentnahme. Wir reden jetzt nicht
über Hornhaut oder eine Kreuzbandentnahme am Knie. Das ist
unspektakulär. Aber Entnahme von Herz, Leber - da bleibt die
Medizin nicht umsonst sehr diskret.
Haben Sie von dem Erlebnis Schäden
davongetragen?
Na ja, ich hätte vielleicht schon Hilfe
gebrauchen können. Ich habe danach sehr lange davon geträumt.
Albträume?
Albträume. Die Szene im OP wiederholt sich wie
in einer Endlosschleife, dieses Blut. Und dann träume ich auch
oft, wie ich alleine auf dem Gang stehe. Mittlerweile träume ich
aber nur noch selten davon. Ich empfinde diese Träume auch als
nicht mehr so bedrohlich. Ich wach nicht mehr schweißgebadet
auf, das ist eher wie ein alter Bekannter, der einem die Hand
auf die Schulter legt. Aber wenn ich intensiv genug daran denke,
dann rieche ich den Blutgeruch aus dem OP. Und bin sofort in der
Szene drin.
Das klingt schon nach Trauma.
Na ja. Wissen Sie, als ich dann da rausging,
nach dem Duschen, da haben die Eltern auf dem Gang gewartet. Ich
weiß nicht, wahrscheinlich wussten die nicht, wohin mit sich.
Die haben gleich hinter der OP-Schleuse gesessen. Und da hat die
Mutter mich gefragt: „Ist jetzt alles gut?“ Da habe ich gesagt:
„Ja, alles ist gut.“ Was hätte ich der Frau sagen sollen? Nee,
alles scheiße gelaufen, da drin sieht’s aus wie im Stall? Ich
erinnere mich noch, der Mann hat sie im Arm gehalten, und beide
haben geweint, und ich konnte da nichts sagen. Ich hab denen
dann nur die Hand gedrückt. Und bin dann gegangen. Ich hatte
Angst, dass meine Fassade zusammenbricht. Diese Szene, die
verfolgt mich auch noch.
Waren Sie da auch ein Opfer in dieser
Situation?
Ich habe mich später als Opfer gefühlt. Das
war für mich ein Wendepunkt - dass da einfach zum Alltag
übergegangen wird. Der Medizinbetrieb ging gnadenlos weiter.
Haben Sie versucht, darüber zu
sprechen?
Nur mit einem Kollegen. Ich wollte wissen, ob
das immer so läuft. Und der Kollege hat mir gesagt, red nicht
darüber, sag dazu nichts. In der Morgenbesprechung am nächsten
Tag wurde gesagt: Die Entnahme hat nur partiell geklappt, weil
die Patientin in der Operation reanimationspflichtig wurde.
Klar, so kann man das sachlich verdichten. Abgehakt.
Denken Sie manchmal noch an die junge
Frau?
Mehr an die Eltern. Das Schicksal der Eltern
hat mir mehr ausgemacht. Aber wenn ich an die junge Frau denke,
dann denke ich, dass das so pietätlos war. Mit Würde hatte das
nichts zu tun. Ich empfinde das fast schon als körperliche
Schändung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand möchte,
dass das mit seinem Körper passiert. Ich habe danach, für mich,
und das habe ich auch in der Familie kommuniziert- ich habe
beschlossen, dass ich kein Organspender sein möchte. Und
konsequenterweise möchte ich auch keine Organe bekommen.
Sie zögern.
Seitdem ich Kinder habe, bin ich etwas
ambivalenter geworden. Wenn ich mir vorstelle, eines von meinen
Kindern wäre todkrank und könnte von einer Organspende
profitieren, ich glaube schon, dass ich mir dann wünschen würde,
dass mein Kind ein Organ bekommt. An der Stelle bin ich nicht
klar.
Die Geschichte, die Sie uns erzählt
haben: War das Ihre letzte Explantation?
Ja.
|