Äußerungsfreiheit nach Artikel
10 EMRK und Reputation
– Annen gegen BR Deutschland
Im Fall
Annen gegen BR Deutschland
hat der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erneut deutlich
gemacht, daß für Äußerungen, die zur politischen Debatte beitragen,
nur wenige Beschränkungen möglich sind.
Sachverhalt:
Der
Beschwerdeführer war ein Aktivist, der Abtreibungen scharf ablehnt.
Er verteilte in der unmittelbaren Umgebung einer Tagesklinik, die
von zwei Ärzten betrieben wurde, Flugblätter. Auf diesen
Flugblättern stand zunächst in fettgedruckten Buchstaben „in der
Tagesklinik von Dr. M und Dr. R. werde illegale Abtreibungen
durchgeführt“. Beide Ärzte wurden dabei mit vollem Namen und Adreße
genannt. Dann folgte ohne Fettdruck der Zusatz „die aber der
deutsche Gesetzgeber erlaubt und nicht unter Strafe stellt. Der
Beratungsschein schützt „Arzt“ und Mutter vor Strafverfolgung, aber
nicht vor der Verantwortung vor Gott.“
In einer
gesonderten Box stand: “Sinngemӓβ aus den internationalen
Strafgesetzen: Mord ist das vorsӓtzliche “Zu-Tode-Bringen” eines
unschuldigen Menschen!” Das Flugblatt enthielt außerdem ein Zitat
aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes und ein Zitat von
Goethes Leibarzt.
Auf der Rückseite
des Faltblattes stand „Die Ermordung der Menschen in Auschwitz war
rechtswidrig, aber der moralisch verkommene NS-Staat hatte den Mord
an den unschuldigen Menschen erlaubt und nicht unter Strafe
gestellt.”
Darunter befand
sich ein Link zu der Webseite „babycaust“, die von dem
Beschwerdeführer betrieben wurde. Auf dieser Webseite befand sich
in der Rubrik „Gebetsanliegen für Deutschand“ eine Liste sogenannter
„Abtreibungsärzte“ mit vollständiger Adreße. Dr. M und Dr. R waren
dabei genannt.
Die beiden Ärzte,
deren Namen in dem Flugblatt genannt waren, beantragten eine
einstweilige Verfügung, um es dem Beschwerdeführer verbieten zu
laßen, die Flugblätter zu verteilen und ihre Namen und Adresse auf
der Webseite zu veröffentlichen.
Das Landgericht
erließ die beantragte einstweilige Verfügung. Es führte aus, das
Flugblatt erwecke den unzutreffenden Eindruck, daß in der
Tagesklinik der beiden Ärzte rechtswidrige Abtreibungen durchgeführt
würden. Zwar werde auf dem Flugblatt klargestellt, daß die
Abtreibungen nach deutschem Recht legal seien. Dies geschehe aber
nur mit kleinerer Schrift. Der Eindruck, der beim Beobachter haften
bleibe, sei aber der fettgedruckte Vorwurf rechtswidriger
Abtreibungen. Auch habe es eine besondere Prangerwirkung, die beiden
Ärzte gesondert herauszustellen. Das gleiche gelte im Prinzip auch
für die Erwähnung der Ärzte auf der Webseite. Diese stelle durch
ihren Namen die Verbindung zum Holocaust dar, so daß der
Beschwerdeführer letztlich die Ärzte so darstelle, als begingen sie
Verbrechen, die mit dem Holocaust vergleichbar seien. Dies sei nicht
mehr durch die Meinungs- und Äußerungsfreiheit gedeckt.
Der
Beschwerdeführer legte Rechtsmittel gegen die einstweilige Verfügung
ein. Das Oberlandesgericht bestätigte jedoch die einstweilige
Verfügung. Nach Auffaßung des Oberlandesgerichtes war es nicht
notwendig, zu entscheiden, ob das Flugblatt und die Webseite
Meinungsäußerungen seien. Selbst wenn es sich um Meinungsäußerungen
handele, müße die Meinungsfreiheit jedenfalls zurücktreten, weil das
Persönlichkeitsrecht der Ärzte überwiege. Das Flugblatt erwecke den
falschen Eindruck, daß in der Tagesklinik ungesetzliche Abtreibungen
vorgenommen würden. Es könne von juristischen Laien wie den Lesern
des Flugblattes nicht erwartet werden, zwischen rechtmäßigen
Abtreibungen und solchen Abtreibungen zu unterscheiden, die zwar
rechtswidrig seien, aber strafrechtliche nicht verfolgt würden.
Nach Auffaßung des
Oberlandesgerichtes war es nicht notwendig, daß die beiden Ärzte im
Verfahren die Webseite dem Gericht vorlegten. Der Inhalt der
Webseite sei frei zugänglich und jeder könne sich über ihren Inhalt
informieren. Außerdem habe der Beschwerdeführer selbst eingeräumt,
die beiden Ärzte als „Abtreibungsärzte“ bezeichnet zu haben
Das
Oberlandesgericht ließ keine Rechtsmittel gegen seine Entscheidung
zu. Der Bundesgerichtshof lehnte den Antrag des Beschwerdeführers
auf Prozeßkostenhilfe ab. Der Beschwerdeführer legte
Verfaßungsbeschwerde ein, die aber nicht zur Entscheidung angenommen
wurde.
Allerdings gab es
noch eine weitere Verfaßungsbeschwerde des Beschwerdeführers, die
einen ähnlichen Sachverhalt betraf. Das Landgericht und
Oberlandesgericht München hatten dem Beschwerdeführer die Verteilung
eines ähnlichen Flugblattes in München verboten. Das
Bundesverfaßungsgericht hatte entschieden, daß das Verbot die
Meinungs- und Äußerungsfreiheit verletze. Das
Bundesverfaßungsgericht hatte ausgeführt, der Arzt durch das
Flugblatt nicht erheblich an sozialer Reputation verloren. Er habe
selbst auf seiner Webseite annonciert, daß er Abtreibungen
durchführe. Auch habe der Beschwerdeführer den Arzt keiner illegalen
Aktivitäten beschuldigt.
Der
Beschwerdeführer legte Beschwerde beim EGMR ein.
Rechtliche
Beurteilung
Der EGMR prüfte,
ob es mit
Artikel 10 EMRK
zu vereinbaren war, daß die zuständigen deutschen Gerichte es dem
Beschwerdeführer verboten hatten, die Flugblätter zu verteilen und
den Namen der Ärzte als „Abtreibungsärzte“ auf der Webseite zu
veröffentlichen.
Eingriffe in das
Recht auf Meinungs- und Äußerungsfreiheit sind nur dann
gerechtfertigt, wenn sie eine gesetzliche Grundlage haben, einem
legitimen Ziel dienen und „in einer demokratischen Gesellschaft
notwendig“ sind. Der EGMR stellte kurz fest, es eine gesetzliche
Grundlage für den Eingriff gab und daß er dem Schutz der Reputation
der betroffenen Ärzte diente. Darüber waren sich auch alle
Beteiligten einig gewesen. Die entscheidende Frage war, ob das
Verbot als „in einer demokratischen Gesellschaft anzusehen war.
Der Gerichtshof
rekapitulierte kurz prägende Grundsätze seiner Rechtsprechung zu
Artikel 10 EMRK:
Meinungs- und Äußerungsfreiheit in sind in einer demokratischen
Gesellschaft fundamental wichtig. Sie schützen nicht nur solche
Äußerungen, die auf Billigung stoßen oder belanglos sind, sondern
auch auf solche Äußerungen, die als schockierend, beleidigend oder
verstörend empfunden werden. Es gibt zwar Grenzen der
Meinungsfreiheit, diese müßen aber überzeugend begründet werden.
Begrenzungen sind nur dann erlaubt, wenn es ein dringendes soziales
Bedürfnis dafür gibt.
Der EGMR betonte,
daß es nur wenig Raum für Beschränkungen der Äußerungsfreiheit gibt,
wenn die in Rede stehend Äußerung einen Beitrag zu einer politischen
Debatte darstellt oder sich auf Fragen bezieht, an denen ein
öffentliches Intereße besteht.
Allerdings führte
der Gerichtshof auch aus, daß auch die Reputation den Schutz der
EMRK genießt (Artikel
8 EMRK).
Wenn es zu Konflikten zwischen der Äußerungsfreiheit und der
Reputation komme, müße der EGMR überprüfen, ob die nationalen
Gericht die Abwägung zwischen den beiden Rechten richtig vorgenommen
hätten.
Der EGMR verwies
darauf, daß die deutschen Gerichte ihre Argumentation unter anderem
darauf gestützt hätten, daß der Beschwerdeführer den Eindruck
erweckt hätte, die Ärzte führten rechtswidrige Abtreibungen durch.
Allerdings verwies der EGMR darauf, daß die Abtreibungen tatsächlich
streng genommen rechtswidrig seien. Nach deutschem Recht sei nämlich
die Abtreibung durch nach Beratung zwar rechtswidrig, werde aber
nicht strafbar (siehe
§ 218 a StGB).
Allein die optische Darstellung auf dem Flugblatt veranlaße einen
vernünftigen Leser nicht zu der Schlußfolgerung, den Ärzten würde
Gesetzesbruch vorgeworfen. Denn es werde ja, wenn auch nicht in
Fettdruck, klargestellt, daß das Verhalten der Ärzte nicht strafbar
sei.
Auch aus dem
Verweis auf den Holocaust laße sich nicht herleiten, daß die
Meinungsfreiheit hinter dem Schutz der Reputation der betroffenen
Mediziner zurücktreten müße. Durch die Formulierung auf dem
Flugblatt werde die Abtreibung nämlich dem Holocaust nicht
gleichgestellt. Vielmehr könne das Flugblatt auch so interpretiert
werden, daß es deutlich machen wolle, daß auch ein Verhalten, daß
nicht strafbar sei moralisch verwerflich sein könne.
Die Flugblätter
wäre ein Beitrag zu einer besonders wichtigen öffentlichen Debatte
gewesen. In dieser Situation müße es dem Beschwerdeführer
zugestanden werden, seine Argument in einer besonders effektiven
Weise darzustellen.
Aufgrund dieser
Überlegungen kam der Gerichtshof zu dem Schluß, daß eine Verletzung
von
Artikel 10 EMRK
durch das Verbot der Verteilung der Flugblätter vorliege.
Darüber hinaus sah
der EGMR eine Verletzung darin, daß es dem Beschwerdeführer verboten
worden war, die Namen der Ärzte auf einer Webseite als
„Abtreibungsärzte“ zu nennen. Der EGMR stützte sich hierbei vor
allem auf ein prozeßuales Argument. Das Oberlandesgericht habe das
Verbot bestätigt, ohne die Webseite überhaupt im Detail zu kennen.
Der Inhalt Webseite sei jedenfalls nicht aktenkundig. Allein der
Umstand, daß die Webseite durch ihren Namen einen Bezug zum
Holocaust herstelle, reiche aber für ein Verbot nicht aus. Auch habe
das Oberlandesgericht nicht sorgfältig argumentiert, sondern im
wesentlichen auf die Gründe verwiesen, die es zu seiner Entscheidung
bezüglich der Flugblätter bewogen hätten. Dies reiche aber nicht
aus.
Aus diesem
prozeßualen Grund stellte der EGMR auch bezüglich des Verbots der
Webseite einen Verstoß gegen
Artikel 10 EMRK
fest.
Urteil vom
26.11.2015, Beschwerde Nr.
3690/10
Quelle:
http://rechtsanwalt-hembach.de/blog/2015/11/30/aeußerungsfreiheit-nach-artikel-10-emrk-und-reputation-annen-gegen-br-deutschland/
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