Zusammengefaßt und kommentiert von Konstantin Mascher (Dipl. Soz.)
Jede menschliche Gesellschaft hat die Freiheit, sich zu entscheiden, ob sie hohe soziale Energie oder sexuelle Freizügigkeit will. Die Fakten zeigen, daß beides gleichzeitig nicht länger als eine Generation möglich ist.1
Any human society is free to choose either to display great energy or to enjoy sexual freedom; the evidence is that it cannot do both for more than one generation.1
1. Einleitung
Die umfangreiche Untersuchung „Sex and Culture“ von Joseph D. Unwin erschien bereits im Jahre 1934.2 Seine Ergebnisse jedoch haben bis in unsere heutige Zeit nichts von ihrer hohen Relevanz eingebüßt. Manche Beobachter sprechen heute von einer fortschreitenden Sexualisierung aller Lebensbereiche (Pansexualisierung der Gesellschaft). Die einen sehen darin die endgültige Befreiung des Menschen, die anderen den kulturellen Zerfall schlechthin. Um so interessanter ist die Frage, welche Folgen es hat, wenn eine Gesellschaft sukzessiv ihre sexuellen Normen aufgibt. Gibt es überhaupt einen Zusammenhang zwischen der sexuellen Regulierung einer Gesellschaft und der kulturellen Entwicklung?
Fragestellung
Zu Unwins Zeiten stellten Vertreter der Psychoanalyse folgende These auf: „Wenn gesellschaftliche Normen die direkte Befriedigung von sexuellen Impulsen verbieten, wird der emotionale Konflikt in anderer Weise ausgedrückt. Was wir ‘Zivilisation’ nennen, ist immer aufgebaut auf dem zwangsweisen Verzicht auf die Befriedigung natürlicher Begierden.“3
Dieser Vermutung wollte Unwin empirisch nachgehen, jedoch nicht mit dem Ziel, eine Theorie oder These zu verifizieren oder falsifizieren, sondern eine offene Frage zu untersuchen. „Ich wünsche das zu betonen. Als ich mit diesen Untersuchungen anfing, wollte ich nichts beweisen, und ich hatte keine Idee, was das Ergebnis sein könnte.“4
Um so mehr war Unwin über sein Ergebnis überrascht, da er seine persönliche Auffassung revidieren mußte. In seiner Einleitung schreibt er weiter: „Ich fing in aller Unschuld an; wäre mir bewußt geworden, wie sehr ich - durch die Ergebnisse meiner Arbeit - meine persönliche Philosophie hätte ändern müssen, ich hätte wahrscheinlich gezögert überhaupt anzufangen.“5 Immer wieder mußte er sich gegen die Schlußfolgerungen sträuben, die ihm „das Material aufzwang.“6
Das 676-seitige Werk ist durchzogen von einer selbstkritischen Vorgehensweise und Zeugnis von einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem empirischen Material. Gerade der kritische und vorsichtige Umgang mit ethnologischen Berichten - auf die sich Unwins Studie stützt - und das Absichern durch die Verwendung unterschiedlicher Quellen und Indikatoren weist auf eine sorgfältige Herangehensweise hin, die mit heutigen Studien kaum zu vergleichen ist.
Vorgehensweise
Den vermuteten Zusammenhang zwischen der sexuellen Regulierung einer Gesellschaft und der kulturellen Entwicklung untersucht Unwin in einem ersten Schritt an unzivilisierten und in einem zweiten Schritt an zivilisierten Kulturen. Dabei verwendet der Autor den Begriff „unzivilisiert“ nicht im wertenden, lediglich im deskriptiven Sinne. Er hätte genauso gut die eine Gesellschaftsform A und die andere B nennen können. „Höhere“ und „niedrigere“ Kulturstufen sind Ergebnisse von Entwicklungen, die in beiden Richtungen verlaufen. Bei Unwin ist keine moralische Wertung impliziert.
Unter zivilisierten Gesellschaften versteht Unwin folgende sechzehn historischen Hochkulturen: Sumerer, Babylonier, Ägypter, Assyrer, Hellener, Perser, Hindus, Chinesen, Japaner, Sassaniden, Araber, (Mauren,) Römer, Teutonen, Angelsachsen und Engländer. Alle anderen Völker, die er untersucht hat, die aber nicht in dieser Liste aufgeführt sind, gehören nach Unwin zu den unzivilisierten Völkern.
2. Unzivilisierte Völker
Unwin beabsichtigte, 120 unzivilisierte Völker anhand von ethnologischen Berichten zu untersuchen. Jedoch stellte sich heraus, daß in einigen Fällen das Material zu bestimmten Völkern sehr mangelhaft war. Aus diesem Grund konnten letztlich nur 80 unzivilisierte Völker in die Untersuchung einbezogen werden, d.h. die Anzahl und Auswahl der Völker orientierte sich ausschließlich an der Qualität der jeweils vorhandenen ethnologischen Berichte. Wie schon eingangs erwähnt, interessierte Unwin der Zusammenhang zwischen den beiden Merkmalen „Kulturniveau“ (2.1) und „sexuelle Regulierung“ (2.2). Diese Variablen sollen im Folgenden kurz beschrieben werden.
2.1 Kulturniveau
Des Weiteren zeigte sich, daß die Völker diese Mächte unterschiedlich wahrnahmen und dementsprechend unterschiedlich auf sie reagierten. Anhand- der Art und Weise der Reaktion auf das „Unsichtbare und Unbekannte“ legt Unwin das Kulturniveau der jeweiligen Völker fest. Er teilt unzivilisierte Gesellschaften in drei Kulturstufen ein: zoistisch-, manistisch und deistisch.
1) Der Deismus (deus = Gott) stellt die höchs-te Kulturform innerhalb der unzivilisierten Gesellschaften dar. Er ist gekennzeichnet durch eine Gottes- und eine ausgeprägte Ahnenverehrung. Die rituellen Handlungen werden an fixierten Orten der Verehrungen (Tempel) durch festgelegte Stellvertreter (Priester) vorgenommen. Die Methoden, dem „Unbekannten“ zu begegnen, sind komplexer als in manistischen und zoistischen Kulturen.
2) Der Manismus (manes = Vorfahren) ist im Wesentlichen durch einen Ahnenkult gekennzeichnet. Im Gegensatz zu deistischen Kulturen besitzen diese Völker keine Tempel, sondern bestenfalls Hütten der Ahnenverehrung.
3) Der Zoismus (zoon = Tier) stellt die niedrigste Kulturform dar. Die rituellen Handlungen folgen einem einfachen Muster und sind nicht an bestimmte Orte oder Personen gebunden. Es gibt keine Tempel o.ä. und bestenfalls einen Magier.
Über dem Deismus steht die „rationalistische“ Kulturform. Sie besitzt laut Unwin das höchste Kulturniveau und ist ein zentrales Kennzeichen von zivilisierten Gesellschaften, die später näher betrachtet werden (siehe Punkt 3).
„An ihren Riten werden wir sie
erkennen.“7
Die Zuordnung der 80 unzivilisierten Kulturen zu einer der drei Kategorien erfolgte anhand der praktizierten Riten. Der Autor ist der Überzeugung, daß unzivilisierte Kulturen aus einer westlichen Perspektive in sinnvoller Weise nur anhand ihres beobachtbaren Verhaltens klassifiziert werden können. Eine am religiösen „Glauben“ orientierte Zuteilung ist nahezu unmöglich, da der „Glaube“ oder das Weltbild für den „weißen“ und fremden Beobachter nur sehr schwer zu erfassen ist.
Die rituellen Handlungen unterteilt Unwin in drei Kategorien:
1. Umgang mit Bedrängnissen
2. Methoden der Wetterkontrolle
3. Umgang mit Geistern
Die einzelnen Kategorien werden nochmals in Unterkategorien eingeteilt (siehe Tabelle 2, Spalten 2-9).
2.2 Sexuelle Regulierung
Die zweite Variable lautet „Sexuelle Regulierung“. Auch hier nimmt Unwin eine sorgfältige Differenzierung vor. Er teilt die sexuelle Regulierung in drei Kategorien ein:
1) Exogamie8
2) sexuelle Regulierungen „vor der Ehe“ und
3) sexuelle Regulierungen „nach der Hochzeit“
Für die Untersuchung der unzivilisierten Völker konzentriert Unwin sich hauptsächlich auf die sexuellen Regulierungen „vor der Ehe“, da er in der Voruntersuchung feststellen mußte, daß die sexuellen Regulierungen „nach der Hochzeit“ in unzivilisierten Völkern eine marginale Rolle spielen.
Für die Untersuchung unterteilt der Autor die „sexuellen Regulierungen vor der Ehe“ nochmals in drei weitere Kategorien9:
a) Voreheliche Keuschheit: Hier wird von der Frau gefordert, daß sie bis zur Hochzeit eine Jungfrau bleibt (virgo intacta). Der voreheliche Geschlechtsverkehr wird streng sanktioniert (z.B. durch Tod), und die Jungfräulichkeit vor der Hochzeit von festgelegten Personen in dafür vorgesehenen Räumen untersucht und bescheinigt.
b) Unregelmäßige oder gelegentliche Enthaltsamkeit: Vorehelicher Geschlechtsverkehr wird unter bestimmten Bedingungen toleriert (wenn z.B. kein Kind dabei entsteht), aber nicht grundsätzlich verboten.
c) Sexuelle Freiheit vor der Ehe: Abgesehen von wenigen Ausnahmen (z.B. Inzestverbot) wird sexueller Verkehr nicht sanktioniert.
2.3 Erhebung
Erläuterung zu Tabelle 2:
In der linken Spalte ist ein Teil der untersuchten Völker verzeichnet. Die nächste Spalte (Nr.1) verzeichnet das „kulturelle Niveau“ (Z=zoistisch; M=manistisch; D=deistisch). Dieses ergibt sich aus der Art des Umgangs mit Bedrängnissen (Spalten 2-4), der Wetterkontrolle (Spalten 5 und 6) und des Umgangs mit Geistern (Spalten 7-9), und ob Tempel und Priester (Spalte 10) vorhanden sind. Die Symbole in den Spalten weisen darauf hin, ob ein bestimmtes Verhalten vorhanden war (ein „Pluszeichen“) oder nicht (ein „Minuszeichen“). Ein „Plus-Minus-Zeichen“ (±) kennzeichnet unsicheres Wissen und ein Zeichen mit Fragezeichen (z.B. +?) weist auf fragwürdiges Wissen.
In der letzten Spalte (Nr. 11) wird die „sexuelle Regulierung vor der Ehe“ kodiert. Ein Pluszeichen (+) wird nur dann verzeichnet, wenn sichergestellt ist, daß die Frau vor der Ehe eine Jungfrau sein muß. Ein „Minus-Stern-Zeichen“ (-*) deutet eine „unregelmäßige bzw. gelegentliche Enthaltsamkeit“ an und ein Minuszeichen (-) eine „sexuelle Freiheit vor der Ehe“.
Zur Auswertung sind letztlich nur noch die Einträge in der ersten Spalte (Kulturniveau) und elften Spalte (Voreheliche Keuschheit) von Interesse, die Unwin noch einmal graphisch anhand von zwei Skalen darstellt (siehe Abb. 1 und 2).
Erläuterungen zu den Skalen:
Die erste Abbildung (linke Skala) stellt die Ausprägungen der Kategorie „Voreheliche Keuschheit“ dar. In der ersten senkrechten Spalte sind alle 80 untersuchten Völker aufgelistet. Am linken Spaltenrand wird angezeigt, aus welchem Kontinent bzw. welcher Region die Völker stammen. Die schwarzen horizontalen Balken sollen darstellen, ob die Kulturen eine „sexuelle Freiheit vor der Ehe“ (pre-nuptial freedom - kurzer Balken) pflegen, „gelegentliche bzw. unregelmäßige Enthaltsamkeit“ (irregular or occasional continence - mittellanger Balken) oder „voreheliche Keuschheit“ (pre-nuptial chastity - längster Balken) fordern. D.h. der Balken, der alle Spalten abdeckt, kennzeichnet Völker, die eine voreheliche Keuschheit fordern.
In der zweiten Abbildung (rechte
Skala) wird das Kulturniveau der 80
Völker dargestellt. Die Reihenfolge der
Auflistung der Völker ist mit der linken
Skala identisch. Hier bezieht sich die
Länge des horizontalen schwarzen Balkens
auf das Kulturniveau: Je länger der
Balken, desto höher das Kulturniveau.
Die manistischen Kulturen teilt Unwin in
zwei weitere Unterstufen (manistic-cult
und manistic-tendance) ein, die für das
Ergebnis ohne Bedeutung sind.
2.3 Ergebnisse
Das Ergebnis überraschte Unwin: Beide Skalen sind - mit zwei Ausnahmen (Nr. 13 und Nr. 72) - identisch. Unwin hatte nicht wirklich geglaubt, daß tatsächlich ein Zusammenhang zwischen der sexuellen Regulierung einer Gesellschaft und deren Kulturniveau bestünde und wenn, dann nicht, daß dieser Zusammenhang mit einer solchen Deutlichkeit zum Vorschein käme.
Unwin konkludiert:
„1. Alle zoistischen Gesellschaften erlaubten voreheliche sexuelle Freizügigkeit. Umgekehrt waren alle Gesellschaften, die sexuelle Freiheit gewährten, auf einem zoistischen kulturellen Niveau.
2. Alle manistischen Gesellschaften zeigten eine unregelmäßige bzw. gelegentliche Enthaltsamkeit. Umgekehrt waren alle Gesellschaften, die das Ausleben der vorehelichen Sexualität nur bedingt einschränkten, auf einem manistischen Niveau.
3. Alle deistischen Gesellschaften bestanden auf vorehelicher Keuschheit. Umgekehrt waren alle Gesellschaften, die voreheliche Keuschheit forderten, auf einem deistischen kulturellen Niveau.“10
Unwin stellte also fest, daß es einen Zusammenhang zwischen den beiden Merkmalen Kulturniveau und Sexuelle Regulierung gibt. Aus den Ergebnissen geht aber noch nicht hervor, in welcher Richtung der Zusammenhang verläuft, also ob z.B. die sexuelle Regulierung einen Einfluß auf das Kulturniveau hat. Es könnte genauso gut sein, daß das kulturelle Niveau die Einstellung einer Gesellschaft zur Sexualität beeinflußt. Damit ist die Forschungsfrage folglich noch nicht beantwortet.
Aus diesem Grund stellt Unwin theoretische Überlegungen an, die Aufschluß über die Richtung des Zusammenhangs geben sollen.
2.4 Kulturelle Entwicklung
Die grundsätzliche Frage lautet also - um es noch einmal auf den Punkt zu bringen - was beeinflußt die kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft und wie kommt es dazu, daß sich Gesellschaften von einer Kulturstufe zur nächsten entwickeln. Unwin erhofft sich von der Beantwortung dieser Frage eine Antwort auf seine ursprüngliche Forschungsfrage.
Nach Unwin hat jede Gesellschaft mit einem einfachen Verständnis ihrer Umwelt angefangen. Einige Gesellschaften entwickelten sich mit einer hohen Geschwindigkeit weiter, während andere auf ihrem Niveau stehenblieben oder irgendwann von einem hohen in ein niedrigeres Niveau abstiegen. Unwins Vermutung lautet, daß die Veränderung der Kulturstufe entscheidend vom Weltbild und damit dem Verständnis der Umwelt abhängig ist. Dieses Verständnis - sei es schriftlich fixiert, bewußt oder unbewußt vorhanden - beeinflußt das Verhalten.
Um diese Vermutung zu untermauern, zieht Unwin die 80 unzivilisierten Völker erneut heran. Da die Einteilung der Völker anhand des Verhaltens (Riten) in drei Kulturstufen erfolgte, dürfte sich im Umkehrschluß die Komplexität der Weltbilder der Völker ebenfalls in den drei Stufen widerspiegeln. Deistische Kulturen z.B. müßten dementsprechend ein differenzierteres Verständnis der Umwelt aufweisen als manistische oder zoistische Völker11.
Anhand der Sprache wird nun das „Weltbild“ der einzelnen Völker zu ermitteln versucht. In dieser weiteren Untersuchung zeigt sich, daß deistische Kulturen tatsächlich über ein komplexeres Weltbild verfügen als manistische Kulturen, die wiederum ein komplexeres Verständnis ihrer Umwelt als zoistische Kulturen aufweisen.
Nach Unwin besitzen zoistische Kulturen die „niedrigste Stufe der Wahrnehmung“ („dead level of conception“), da sie keine begriffliche Unterscheidung zwischen möglichen Ursachen machen. Für alles Ungewöhnliche (Tod, Naturkatastrophen, universelle Mächte, Magier usw.) verwenden diese Völker in der Regel nur einen Begriff.
Deistische Völker besitzen hingegen einen umfangreichen Wortschatz, der zwischen den unterschiedlichen Phänomenen unterscheidet. Ihr Weltbild ist komplizierter - was sich in ihrem Verhalten äußert - und sie besitzen damit ein „höheres“ Kulturniveau. Der einzige Grund, warum deistische Kulturen ein komplexeres Verständnis haben, liegt nach Unwin daran, daß sich bestimmte Gruppen („Eliten“) innerhalb dieser Gesellschaften mehr Gedanken („thought and reflection“) über ihre Umwelt gemacht haben als andere Kulturformen. Sie denken und reflektieren und besitzen dadurch ein größeres Potential - Unwin spricht von einer höheren „sozialen Energie“ - mit der sie ihre Umwelt beeinflussen können. Das gilt für den Aufstieg vom zoistischen zum manistischen und vom manistischen zum deistischen Kulturniveau. Den drei Kulturformen ordnet er drei „Energiestufen“ zu (siehe Tabelle 3).
Nebenbei entdeckt Unwin ein weiteres Maß, das seine Kategorisierung bestätigt: Das Zahlen-system. In einigen ethnologischen Berichten entdeckt Unwin, daß erwähnt wurde, wie weit die jeweilige Gesellschaft zählen konnte. Deistische Völker konnten am weitesten zählen, während die zoistischen Kulturen ein gering ausgeprägtes Zahlensystem hatten.12
Mit dieser Feststellung ist erklärt, daß das kulturelle Niveau vom Denken bzw. Reflektieren einer Gesellschaft bzw. von Gruppen innerhalb der Gesellschaft abhängig ist.
In einer weiteren Überlegung muß nun geklärt werden, inwieweit es einen Zusammenhang zwischen der Sexuellen Regulierung einer Gesellschaft und dem Denken und Reflektieren gibt. Hier wendet Unwin sich den Erkenntnissen der Psychoanalyse zu und versucht den Zusammenhang vorerst theoretisch zu erklären.
Unzivilisierte Gesellschaften |
Deistisch |
Dritte Energiestufe |
---|---|---|
Manistisch |
Zweite Energiestufe |
|
Zoistisch |
Erste Energiestufe
(unterste) |
2.5 Sublimierung und Zivilisation
Vor den Erkenntnissen der Psychoanalyse ging man davon aus, daß das Verhalten und das Wesen des Menschen allein in seiner Biologie verankert sind. Neuere Erkenntnisse zeigten, daß der Mensch auch wesentlich durch die Auseinandersetzung mit seiner Umwelt geformt wird.
Der Mensch hat zwar biologische Bedürfnisse, doch müssen diese häufig in Einklang mit den Regeln einer Gesellschaft gebracht werden. So dürfen beispielsweise sexuelle Bedürfnisse nicht zu jeder Zeit mit jeder Person ausgelebt werden. In der Konfrontation der eigenen Bedürfnisse mit gesellschaftlichen Standards manifestiert sich nach der Freudschen Psychoanalyse in einem jeden Menschen ein Unterbewußtsein, von dem er selbst nichts weiß. Er ahnt höchstens, daß es im Bewußtsein noch eine tiefer liegende Ebene gibt. Wenn nun ein sexuelles Bedürfnis nicht direkt und sofort befriedigt werden darf, dann muß es in irgendeiner Weise modifiziert werden. Nach Freud kann unterdrückte sexuelle Begierde zu seelischen Störungen und krankhaften Symptomen (Neurosen) führen. Diese Fälle sah Freud in seiner Praxis. Da nun nicht jeder Mensch in derselben Kultur psychische Störungen aufwies, stellt sich die Frage: Wie ist es mit den anderen in dieser Kultur, die nach denselben sexuellen Normen leben müssen?
Die Psychoanalytiker kamen zu dem Schluß: Die emotionalen und geistigen Spannungen führen bei der Mehrheit zu einer Sublimierung (Freud), die Spannung wird in produktive und kreative Kanäle umgeleitet.
Freud war sogar der Auffassung: „Wir glauben, daß die Zivilisation durch den Verzicht auf die Befriedigung primitiver Impulse aufgebaut wurde und daß sie ständig wieder neu geschaffen wird, wenn ein Individuum die Befriedigung seiner instinktiven Begierden für das Gemeinwohl opfert. Die sexuellen Bedürfnisse sind eine der wichtigsten instinktiven, verwendeten Kräfte: sie sind in dieser Hinsicht sublimiert, d.h. ihre Energie wird von ihrem sexuellen Ziel hin zu anderen Zielen divergiert, die nicht mehr sexuell, sondern sozial wertvoller sind.“13
Soweit zu den Erkenntnissen der Psychoanalyse, die Unwin zur Interpretation seiner Ergebnisse heranzieht.
2.6 Schlußfolgerung und Interpretation der Ergebnisse
Unwin ist der Überzeugung, daß eine grundsätzliche Fähigkeit zur Reflektion und zur Umsetzung von Erkenntnissen in jeder menschlichen Gesellschaft steckt. Damit aber dieses Potential zum Zuge kommen kann, muß die unmittelbare Gratifikation der sexuellen Bedürfnisse eingeschränkt werden. Diese Einschränkung bewirkt einen emotionalen Konflikt, der „ungelöste“ Energie erzeugt, die sich pathologisch als Neurose äußern kann, in den meisten Fällen aber in eine „soziale Energie“ kanalisiert wird. Insofern beschreibt Unwin die „soziale Energie“ einer Gesellschaft als eine Manifestation von sublimierten sexuellen Impulsen.14
Vor dem Hintergrund dieser Gedanken
besitzen nach Unwin deistische Völker ein
höheres Kulturniveau, weil sie die sexuellen
Gelegenheiten vor der Ehe im Gegensatz zu
den manistischen und zoistischen Kulturen am
weites--ten
eingeschränkt haben. Manistische Völker
befinden sich auf einem höheren Kulturniveau
als zoistische Völker, weil ihre sexuellen
Regulierungen strenger sind. Ausdruck des
jeweils höheren Kulturniveaus ist das
differenziertere und komplexere Umgehen mit
existentiellen Ereignissen.
An dieser Stelle stellt sich die Frage, was unter dem Begriff „Ursache“ zu verstehen ist. Welche Auswirkung haben sexuelle Regulierungen? Haben sie eine direkte, ausschließliche oder endgültige Wirkung? Unwin schreibt, daß sie eine direkte Auswirkung haben, doch ist die kulturelle Entwicklung nicht ausschließlich oder endgültig von ihnen abhängig. Es mag eine ganze Reihe von weiteren notwendigen Faktoren geben, die zur kulturellen Entwicklung beitragen, doch die soziale Energie kann nur dann zum Zuge kommen, wenn die sexuellen Gelegenheiten eingeschränkt sind.
Umgekehrt muß mit jeder Erweiterung der sexuellen Gelegenheiten eine Abnahme der sozialen Energie erfolgen und damit auch ein Abstieg des kulturellen Niveaus zu verzeichnen sein. Aus seinem empirischen Material kann Unwin aufzeigen, daß sich die Folgen einer veränderten Sexualnorm erst nach ca. einem Jahrhundert (drei Generationen) bemerkbar machen. D.h. der jetzige kulturelle Zustand ist unter anderem abhängig von den sexuellen Regulierungen in den vorherigen Generationen.
Aus diesen Erkenntnissen formuliert Unwin eine Gesetzmäßigkeit:
„Der kulturelle Zustand jedweder Gesellschaft in jedweder geographischen Umgebung wird durch die vergangenen und gegenwärtigen Methoden der Regulierung der Beziehungen der Geschlechter zueinander bestimmt.“15
Diese These wird in einem weiteren Schritt am -historischen Verlauf von sechs Hochkulturen (zivilisierten Gesellschaften) untersucht: Sumerer und Babylonier, Athener, Römer, Angelsachsen und Engländer. Die Auswahl dieser Hochkulturen -orientiert sich - wie bei den unzivilisierten Völkern - ausschließlich daran, ob ausreichendes Wissen zu den sexuellen Regulierungen und dem jeweiligen kulturellen Verlauf vorhanden ist.
3. Zivilisierte Gesellschaften
Zu Anfang wurde schon erwähnt, daß zivilisierte Gesellschaften sich auf einem „höheren“ kulturellen Niveau befinden. Ihr Verständnis von der Welt äußert sich durch eine ausgeprägte „Rationalität“ dem „Unbekannten“ gegenüber. Durch ihr Hinterfragen und Streben nach Wissen haben sie effektivere Methoden entwickelt, um die Umwelt besser zu beherrschen (fortgeschrittene Agrartechniken, Architektur usw.) als deistische, manistische und zoistische Völker.
Aus der Analyse des historischen Materials zu den sechs Hochkulturen kristallisiert Unwin drei Merkmale heraus, die den Aufstieg aller Gesellschaften zu Hochkulturen kennzeichnen: ein deistisches Kulturniveau, absolute Monogamie und Monarchie. Im Rahmen dieses Beitrags sei vor allem auf die Rolle der absoluten Monogamie hingewiesen.
3.1 Die Rolle der absoluten Monogamie
Für die kulturelle Weiterentwicklung von einem deistischen zu einem rationalistischen Niveau spielen nach Unwins Forschungen nicht nur die sexuelle Regulierung „vor der Ehe“, sondern auch die Regeln „nach der Hochzeit“ eine entscheidende Rolle. Die Ausprägungen einer vorehelichen sexuellen Regulierung wurden schon bei den unzivilisierten Völkern erwähnt (a. Voreheliche Keuschheit, b. Gelegentliche bzw. unregelmäßige Enthaltsamkeit und c. Sexuelle Freiheit vor der Ehe). In einem weiteren Zug ergänzt Unwin nun die Regulierung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern „nach der Hochzeit“. Sie lauten:
1. Modifizierte Monogamie oder Polygamie: Weder vom Mann noch von der Frau wird erwartet, daß sie ihre Sexualität ein Leben lang allein in der Ehe auf eine Person beschränken.
2. Absolute Polygamie: Ein Mann darf mehrere Ehefrauen haben. Diese Frauen dürfen ihre Sexualität nur mit diesem Mann ausleben.
3. Absolute Monogamie: Die Frau kennt ihr Leben lang nur ihren Mann und der Mann kennt sein Leben lang nur seine Frau, solange diese sich an die sexuellen Vorschriften hält. Eine Scheidung ist -äußerst selten.
Darin besteht nun der entscheidende Unterschied zwischen den unzivilisierten und den zivilisierten Kulturen: Die zivilisierten Kulturen zeichnen sich dadurch aus, daß sie am Anfang ihres kulturellen Aufstiegs - neben der vorehelichen Keuschheit - auch auf einer absoluten Monogamie bestanden. Aus seinen Untersuchungen kommt Unwin zu dem Schluß: „In der Vergangenheit stiegen unterschiedliche Gesellschaften auf in unterschiedlichen Teilen der Erde, gediehen prächtig, und gingen wieder nieder. In jedem Fall fing die Gesellschaft ihre historische Karriere in einem Zustand der absoluten Monogamie an (…).“16 Dieses Merkmal der absoluten Monogamie taucht in den Berichten zu unzivilisierten Völkern nicht auf.
Doch warum sollte die absolute Monogamie das kulturelle Niveau so stark beeinflussen? Anhand der Untersuchungen und Überlegungen zu den unzivilisierten Völkern kommt Unwin zu dem Schluß, daß die Hochkulturen die sexuellen Gelegenheiten, im Gegensatz zu den unzivilisierten Völkern, um ein weiteres Maß reduzierten. Sie haben die Möglichkeiten einer sexuellen Triebbefriedigung vor der Ehe UND nach der Hochzeit auf ein Minimum reduziert. Dadurch fand - um in der freud-schen Terminologie zu bleiben - eine verschärfte Sublimierung statt, die wiederum ein „Mehr“ an „sozialer Energie“ erzeugte. Diese Energie floß in expansive und produktive Kanäle.
3.2 Kultureller Aufstieg: Expansive und Produktive Energie
Allerdings wurde nach Unwin diese strenge Regulierung der Beziehung der Geschlechter nie lange toleriert, da jeder Verzicht „schmerzhaft“ (suffering) ist. Wurden dann die Regeln aber aufgeweicht, indem der Mann z.B. mehrere Frauen haben durfte, so verlor die Gesellschaft jedesmal ihre expansive Energie.
Hält eine Gesellschaft ihre strengen sexuellen Normen aufrecht, entfaltet sie zunächst einen rationaleren Zugang zur Welt. Durch die entstandene soziale Energie wird die kulturelle Tradition verbessert und bereichert. Werden dann die sexuellen Gelegenheiten weiterhin auf demselben minimalen Niveau gehalten, entwickeln Gesellschaften eine produktive soziale Energie. Eine Gesellschaft, die produktive soziale Energie aufweist, fängt an, eine wissenschaftliche Herangehensweise zu entwickeln und wird erfinderisch und innovativ (siehe Tabelle 4).
„In den historischen Aufzeichnungen gibt es kein Beispiel einer Gesellschaft, die große soziale Energie aufweist, es sei denn, sie war für einen gewissen Zeitraum absolut monogam. Fernerhin kenne ich keinen Fall, daß in einer absoluten monogamen Gesellschaft die Fähigkeit, hohe soziale Energie aufzuweisen, ausblieb.“17
Der Wandlungsprozeß von einer zur nächsten Energiestufe geschieht nicht von heute auf morgen. Nach Unwin dauert es drei Generationen (ca. ein Jahrhundert), bis sich das volle kulturelle Ausmaß einer strengeren Regulierung bzw. Aufweichung bemerkbar macht. Für die Analyse und Bewertung von Gesellschaften zu einem bestimmten Zeitpunkt ist es deshalb von Bedeutung, die vorherigen Generationen zu betrachten. So kann es vorkommen, daß Gesellschaften oder bestimmte Gruppen momentan eine sexuelle Freizügigkeit genießen und trotzdem auf einem hohen Kulturniveau stehen. Die vorigen Generationen - oder bestimmte führende Schichten innerhalb der Gesellschaft - haben aber dann enthaltsam gelebt.
Die erwähnte produktive soziale Energie kann allerdings nur solange aufrechterhalten bleiben, wie eine Gesellschaft die sexuellen Möglichkeiten auf ein Minimum reduziert - indem sie strenge voreheliche Keuschheit und in der Ehe absolute Monogamie fordert. Im Umkehrschluß bedeutet es, daß mit der Auflösung der absoluten Monogamie auch das kulturelle Niveau sinken muß. Diesen Umkehrschluß beobachtet Unwin an allen untersuchten historischen Hochkulturen.
3.3 Kultureller Abstieg
In der umfangreichen Untersuchung der historischen Verläufe der sechs Hochkulturen kommt Unwin zu folgendem Schluß: „Diese Gesellschaften lebten in unterschiedlichen geographischen Regionen; sie gehörten zu unterschiedlichen Rassen; aber ihre Geschichte der Heiratsordnung ist dieselbe. Am Anfang hatte jede Gesellschaft dieselben Ideen in Bezug auf die sexuellen Regulierungen. (…) Jede Gesellschaft reduzierte die Möglichkeiten der sexuellen Befriedigung auf ein Minimum, wies große soziale Energie auf und florierte. Dann erweiterte sie die Möglichkeiten der sexuellen Befriedigung; ihre Energie wurde weniger und löste sich auf. Das einzig Außergewöhnliche an dem Ganzen ist die absolut gleichförmige Wiederholung.“18
Die Erweiterung der Möglichkeiten der sexuellen Befriedigung hing nach Unwin vor allem daran, daß keine der untersuchten Gesellschaften - darin sieht der Autor eine weitere Gesetzmäßigkeit - jemals eine absolute Monogamie auf Dauer aufrechterhalten konnte. Das hing vor allem mit der Rolle und den Rechten der Frau zusammen.
Die Rolle der Frau
Die verheiratete Frau war in den meisten Fällen das Eigentum des Mannes (Ausnahme: die Patrizier bei den Römern und die protestantischen Engländer). Sie war dem Mann ausgeliefert, und ihre Aufgabe war es, ihm zu dienen und ihm zu gehorchen. Sie hatte fernerhin keine Rechte und durfte deshalb keinen eigenen Besitz haben und auch keine Rechtsgeschäfte abschließen.
Auch die Kinder unterlagen der Autorität des Vaters und waren wie die Frau keine Rechtssubjekte. Bei der Geburt konnte der Vater entscheiden, ob ein Kind leben durfte oder nicht. Sie konnten auch vom Vater als Sklaven verkauft oder als Pfand zurückgelegt werden (Babylonier).
Im Laufe der Zeit ergriff deshalb jede dieser Gesellschaften Maßnahmen, um den Status der Frauen und Kinder zu verbessern. Entweder die Frauen emanzipierten sich oder sie wurden emanzipiert.
Emanzipation
Die Emanzipation, wie wir sie heute kennen, ist kein neues Phänomen oder eine Errungenschaft der westlichen Zivilisation. Ganz im Gegenteil: Unwin stellt aus dem historischen Material fest, daß es eine Emanzipation der Frau in jeder zivilisierten Gesellschaft gegeben hat. Die absolute Monogamie und die damit verbundene Rechtlosigkeit der Frau waren immer der Anlaß für die Emanzipation gewesen. Mit der Emanzipation verzeichnet Unwin zeitversetzt auch den kulturellen Abstieg in jeder der untersuchten Gesellschaften. Dabei betont er, daß nicht die Emanzipation an sich zu einem kulturellen Abstieg geführt hat, sondern die damit verbundenen Folgen: nämlich die Erweiterung der sexuellen Möglichkeiten.
Mit der Emanzipation wurde die rechtliche Stellung der Frau verbessert. Hatte sie früher keine Rechte, bekam sie diese nun zugesprochen, bis dahin, daß sie dem Mann rechtlich gleichgestellt wurde. Das hatte Folgen für die Heiratsordnungen und das Heiratsverständnis.
Nach den Reformen z.B. galt die Frau nicht mehr als Eigentum des Mannes. In der Heiratsordnung spiegelte sich das im Brautpreis wieder. Zuvor hatte der Mann die Frau über den Brautpreis erworben, der später durch ein symbolisches Geschenk ersetzt wurde.
Genauso galt die Heirat zwischen Mann und Frau nicht mehr als eine gemeinschaftliche Angelegenheit. Die Entscheidung, wer wen heiratet, hing nunmehr vom gegenseitigen Einverständnis der Partner selbst ab und brauchte nicht mehr durch öffentliche Rituale bestätigt zu werden.
Nicht anders verhielt es sich mit der Scheidung: Vor der Emanzipation war eine Scheidung in den seltensten Fällen erlaubt, danach immer häufiger, bis sie schließlich gar nicht mehr sanktioniert wurde. Das Scheidungsrecht wurde zunehmend vereinfacht bis dahin, daß in manchen Gesellschaften die Scheidung schon dann vollzogen war, wenn ein Ehepartner sie dem anderen mündlich mitteilte.
Mit diesen Veränderungen erweiterten sich die Möglichkeiten der sexuellen Beziehungen für Männer und Frauen dahingehend, daß diese nicht mehr spezifischen Regeln unterlagen. Unwin stellt fest, daß im Zuge dieser Entwicklungen auch die Forderung nach vorehelicher Keuschheit fallengelassen wird. Zusammenfassend schreibt Unwin: „ (…) egal welche Rasse, und egal, in welcher geographischen Region sie lebten, die Art und Weise, wie sie die absolute Monogamie modifizierten, war dieselbe.“19
Rückgang der „sozialen Energie“
Mit der Erweiterung der sexuellen Möglichkeiten nahm zeitversetzt auch die soziale Energie ab. Die Konsequenz dieser Veränderung ist in jeder der untersuchten zivilisierten Gesellschaften zu beobachten: Es kommt zu einem kulturellen Niedergang dieser Hochkultur und in den meisten Fällen auch zu einer Eroberung durch andere Völker, die ihrerseits in den vorangegangenen Generationen die sexuellen Gelegenheiten auf ein Minimum reduziert und damit expansive Energie entwickelt hatten.
4. Schlußfolgerungen
Auch wenn die Triebtheorie von Freud - auf die Unwin sich beruft - überholt sein mag, so ist der deutlich beobachtete Zusammenhang zwischen Kulturniveau und Sexueller Regulierung nicht zu leugnen.
Es ist zweifelsfrei seit mehreren Jahrzehnten -eine zunehmende Sexualisierung unserer westlichen Gesellschaft auf unterschiedlichsten -Ebenen zu verzeichnen. Gesellschaftliche Normen fordern seit langem keine voreheliche Keuschheit mehr und die absolute Monogamie ist selbst in konservativen Kreisen zwar als Leitbild vorhanden, aber als gelebte Praxis durch eine zunehmende Brüchigkeit gekennzeichnet. Eine vordergründige Betrachtung des gesellschaftlichen Ist-Zustandes könnte zu dem Schluß führen, daß wir momentan eine zunehmende sexuelle Freizügigkeit und ein kulturell hohes Niveau gleichzeitig genießen. Unwin ist der Auffassung, daß beides nicht gleichzeitig möglich ist: „Manchmal hört man, daß jemand die Vorteile eines hohen kulturellen Niveaus genießen möchte und gleichzeitig die Begrenzung der sexuellen Triebbefriedigung abschaffen wolle. Das Wesen des menschlichen Organismus scheint jedoch so beschaffen zu sein, daß diese Wünsche unvereinbar sind, sogar einander widersprechen. Solch ein Reformer gleicht dem törichten Jungen, der den Kuchen essen und gleichzeitig behalten will. Jede menschliche Gesellschaft hat die Freiheit, sich zu entscheiden, ob sie hohe soziale Energie oder sexuelle Freizügigkeit will. Die Fakten zeigen, daß beides gleichzeitig nicht länger als eine Generation möglich ist.“20
Joseph Daniel Unwin (M.C., Ph.D.,1895 - 1936)
Anthropologe und Ethnologe und von 1928-1931 Dozent und Forscher (Fellow Commoner Research Student) an der Universität in Cambridge.
Konstantin Mascher
Dipl.-Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Jugend und Gesellschaft (DIJG). Arbeitsschwerpunkte: Beziehungs- und Sexualethik für Jugendliche.
Anmerkungen
1 J. D. Unwin, Sex and Culture, Oxford University Press, London: Humphrey Milford, 1934, 412.
2 J. D. Unwin, Sex and Culture, Oxford University Press, London: Humphrey Milford, 1934.
3 “If the social regulations forbid direct satisfaction of the sexual impulses the emotional conflict is expressed in another way, and that what we call „civilization“ has always been built up by compulsory sacrifices in the gratification of innate desires.”
ebd., vii.
4 “I wish to emphasize this. When I started these researches I sought to establish nothing, and had no idea of what the result would be.”, ebd.
5 “I began in all innocence; had I realized how greatly, as the result of my work, I should have to revise my personal philosophy, I might even have hesitated to begin at all.”, ebd.
6 ebd.
7 „By their rites we shall know them.“, ebd., 13
8 Exogamie: Heiratsordnung, nach der nur außerhalb des eigenen sozialen Verbandes geheiratet werden darf. Gegensatz: Endogamie. Diese Kategorie findet bei Unwin keine weitere Beachtung. In der Untersuchung wird sie nicht weiter verwendet.
9 Unwin, 27ff.
10 ebd., 300f.
11 Dieses Verfahren untermauert erstens seine eben formulierte Vermutung, und er kann zweitens feststellen, ob seine Zuordnung der 80 Völker in die drei Kategorien korrekt erfolgte.
12 Unwin, 359.
13 “We believe that civilization has been built up by sacrifices in gratification of the primitive impulses, and that it is to a great extent for ever being recreated as each individual repeats the sacrifice of his instinctive pleasures for the comon good. The sexual are amongst the most important of the instinctive forces thus utilized: they are in this way sublimated, that is to say, their energy is turned aside from ist sexual goal and diverted towards other ends, no longer sexual and socially more valuable.”
S. Freud, Introductory Lectures on Psycho-Analysis, trans. J. Rivière, p. 17., zitiert nach Unwin, a.a.O., 314, aus dem Englischen rückübersetzt.
14 Unwin, 317.
15 “The cultural conditions of any society in any geographical environment is conditioned by its past and present methods of regulating the relations between the sexes.”, ebd., 340.
16 “In the past different societies have risen up in different parts of the earth, flourished greatly, and then declined. In every case the society started its historical career in a state of absolute monogamy (…)”.
ebd., 369.
17 “In the records of history, indeed, there is no example of a society displaying great energy for any appreciable period unless it has been absolutely monogamous. Moreover, I do not know of a case in which an absolutely monogamous society has failed to display great energy.”, ebd., 369.
18 “These societies lived in different geographical environments; they belonged to different racial stocks; but the history of their marriage customs is the same. In the beginning each society had the same ideas in regard to sexual regulations. Then the same struggles took place; the sentiments were expressed; the same changes were made; the same results ensued. Each society reduced its sexual opportunity to a minimum and, displaying great social energy flourished greatly. Then it extended its sexual opportunity; its energy decreased, and faded away. The one outstanding feature of the whole story is its unrelieved monotony.”, ebd., 381.
19 “(…) whatever racial extraction of the people, and whatever the geographical environment in which they lived, the manner in which they modified their absolute monogamy was the same in every case.”
ebd., 382.
20 “Sometimes a man has been heard to declare that he wishes both to enjoy the advantages of high culture and to abolish compulsory continence. The inherent nature of the human organism, however, seems to be such that these desires are incompatible, even contradictory. The reformer may be likened to the foolish boy who desires both to keep his cake and to consume it. Any human society is free to choose either to display great energy or to enjoy sexual freedom; the evidence is that it cannot do both for more than one generation.”, ebd., 412.