Die untoten Hirntoten
von Dr. rer.nat.Erich Lederer
Der Zwang, Organe möglichst frisch zu verpflanzen, verhalf dem „Hirntod“
zu seiner Bedeutung - Ende der lebenserhaltenden Maßnahmen und Startschuss
für die Organentnahme. Immer lauter melden sich jetzt aber Kritiker zu Wort:
Hirntote leben noch.
Am 5. Oktober 1992 kam Marion Ploch nach einem Verkehrsunfall in die
Erlanger Uniklinik. Sie war im vierten Monat schwanger und in kritischem
Zustand. Die 18-Jährige überlebte ihr Schädel-Hirn-Trauma mit mehreren
Frakturen nur um drei Tage. Das Baby in ihrem Bauch aber sollte, so hofften
die Ärzte, Monate später gesund zur Welt kommen. Der Versuch missglückte und
der Fötus überlebte seine Mutter nur um fünf Wochen.
Organentnahme bei Hirntoten ist Tötung
Kann eine Tote ein Kind austragen? Haare wachsen weiter und der Körper
reagiert auf äußere Reize auch dann, wenn Ärzte den Hirntod festgestellt
haben. Sobald das Gehirn keine Aktivität mehr zeigt, dürfen Chirurgen Organe
entnehmen um damit ein anderes Leben retten.
Nun gerät aber diese Definition immer mehr in die Kritik. Das amerikanische
„President‘s Council on Bioethics“ hat schon 2008 die Gründe für die
Rechtfertigung des Hirntods als alles entscheidendes Kriterium für das Ende
des Lebens als Irrtum zurückgewiesen. Denn sie beruhen ausschließlich auf
neurologischen Kriterien. Nicht allein der Kopf bestimme, ob der Körper
aufgehört hat zu leben, so die Kritiker. Zwischen Hirntod und Herzstillstand
liegen manchmal mehrere Wochen, in seltenen Fällen sogar Jahre. Sabine
Müller, Bioethikerin an der Berliner Charité, schreibt in einem Beitrag für
das Blatt „Ethik in der Medizin“, dass die durchschnittlichen
Überlebenszeiten noch länger wären, würden nach dem Hirntod nicht die
lebenserhaltenden Massnahmen sofort abgestellt und Organe entnommen.
„Organentnahmen von Hirntoten“, so meint Müller, „sehe ich als Tötung an.“
Reicht es für die Anliegen der Transplantationsmedizin, dass sich hirntote
Patienten mit erwiesener Sicherheit nicht mehr erholen können? Vor dem Jahr
1968 galten Atem- und Herzstillstand als Kriterien für den Übergang ins
Jenseits. Weil aber für das Recycling von Organen eine genauere Definition
her musste, bestimmte eine Ad-Hoc-Kommission der Harvard-University den
Hirntod als endgültige Grenze, die in Deutschland medizinisch und rechtlich
bindend ist. Aber auch dann, so beweisen empfindliche neue
Bildgebungsverfahren, ist die Aktivität im Kopf nicht vollständig erloschen.
Die Fachliteratur kennt etliche Fälle, in denen der vermeintliche Hintod die
Durchblutung des Gehirns nicht stoppt.
Non-Heart-Beating-Donors
Nach den Kriterien der Bundesärztekammer dürfen die Transplantologen nur
aktiv werden, wenn der Hirntod zweifelsfrei festgestellt ist oder frühestens
drei Stunden nach Herzstillstand. Unsere europäischen Nachbarn sind da fixer
bei der Sache. In Belgien stehen innere Organe bereits 10 Minuten nach der
Nulllinie im EKG zur Verfügung. Auch in Österreich, der Schweiz und Spanien
steht der Körper unter geringerem Schutz. So gibt es in diesen Ländern auch
die Fälle der „Non-Heart-Beating-Donors“, Patienten mit mindestens 10
minütigem Herzstillstand, aber ohne nachweislichen Hirntod. Eurotransplant
schließt sich der 10-Minuten Grenze an und empfiehlt die Zeit als
„Äquivalent zu Hirntod“. England und Polen haben sich für eine
„Teilhirntod-Regelung“ entschieden. Ist die Funktion des Hirnstamms
erloschen, so gilt der Mensch als tot, auch wenn andere Teile des zentralen
Nervensystems noch aktiv sind.
Vollnarkose vor Organentnahme
Physiologische Reflex-Reaktion oder Gefühl bei „teilhirntoten“
Organspendern? Die englische BBC interviewte vor einiger Zeit einen
Anästhesisten zum Thema Explantation. „Man setzt das Skalpell an, und Puls
und Blutdruck schießen hoch. Wenn man keine Medikamente gibt, beginnt der
Patient sich zu bewegen, und der Eingriff wird verunmöglicht.“ Daher
forderten die britischen Ärzte eine Vollnarkose bei toten Patienten. In der
Schweiz wird das bereits so gehandhabt.
Wer den Hirntod als Kriterium für den Tod des Menschen in Frage stellt,
macht der Transplantationsmedizin den Garaus. Denn wenn auch die letzten
physiologischen Funktionen erlöschen, ist es meist zu spät für die
Organspende. Die ,Dead Donor Rule‘ sei reine Augenwischerei zitiert die FAZ
Frank Miller von der amerikanischen Gesundheitsbehörde NIH und Robert Truog
von der Harvard Medical School. Weg von der Regelung, nur Toten Organe
entnehmen zu dürfen - das fordert auch der Düsseldorfer Bioethiker Dieter
Birnbacher, seit vielen Jahren in der Bundesärztekammer aktiv. "Wir müssen
anerkennen, dass hirntote Menschen eben noch nicht tot sind", zitiert ihn
die Berliner „taz“, „und dass wir sie aber dennoch als Organspender
heranziehen können." Eine Entnahme von Lebenden bedeutet aber dann nichts
anderes als aktive Sterbehilfe. „Zu sedieren wäre dann nicht nur der
Spender, sondern auch das ärztliche Gewissen“, folgert die Frankfurter
Allgemeine.
Der Hirntod ist keine klare Zäsur zwischen Leben
und Tod
Das Gehirn bestimmt nicht nur die Persönlichkeit, sondern auch die Merkmale
des Lebens wie die bewusste Steuerung von Gliedmaßen, Sprache oder auch nur
Gedanken. Auf der anderen Seite, so stellte der Philosoph Hans Jonas bereits
in den achtziger Jahren fest, gäbe es ein vegetatives Leben ohne
Hirnfunktion. Auch der Hirnforscher Gerhard Roth sieht Stoffwechselfunktion
und funktionierenden Kreislauf als Kriterien für das Leben an.
Die Überzeugung, mit dem Befund „Hirntod“ die klare Zäsur zwischen Leben und
Tod erfasst zu haben, sei unhaltbar, so schreibt Ralf Stöcker in seinem Buch
„Der Hirntod“, das letztes Jahr erschien. Aber wie dann den goldenen Weg für
die Organspende bahnen? Alexandra Manzei, Soziologin an der TU Darmstadt,
spricht sich für eine offene Diskussion aus - auch im Deutschen Ethikrat,
der sich bisher mit dem Thema nicht befasst hat. Es geht auch darum, wie wir
mit den Ängsten vieler Spendewilliger umgehen, die befürchten, erst die
Organentnahme sorge für ihren Tod.
Quelle: www. doccheck.com,
2.2.2011,
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