Der uneitle Eigensinnige
Dietrich Willier war einer der Gründer der taz und viele
Jahre ihr Korrespondent in Stuttgart. Nun ist "Didi" mit 64 Jahren
gestorben. VON KLAUS HARTUNG & MAX THOMAS MEHR
Sein weiches Gemüt und sein mutiges
Herz verwickelten Dietrich Willier immer wieder in Abenteuer.
Er hatte gewusst, wie es um ihn stand,
und dennoch so lange gearbeitet, wie es ging. Noch am Krankenbett, gequält
von der Chemotherapie, stellte er die letzte Ausgabe der Zeitschrift des
baden-württembergischen Weinbauer-verbandes fertig, weil es seine Pflicht
war und weil ihn die Zukunft des Trollinger nicht gleichgültig ließ.
Diese Art Treue, dieser Lebensmut trotz
allem, auch das war Didis Art. Am Freitag letzter Woche starb Dietrich
Willier, Didi genannt im taz-Milieu, im Alter von 64 Jahren an
Lungenkrebs.
Er gehörte zu den Gründern der taz und
war bis 1989 der Stuttgarter Korrespondent. Aber er verkörperte auch den
Geist dieser Gründungszeit, den Charakter des sanften Rebellen, des
uneitlen Eigensinnigen, der im Kollektiv die Entfaltung seiner
individuellen Möglichkeiten suchte. Er gab alles der Gruppe und gab
gleichwohl nie seinen Eigensinn preis. Er war antiautoritär, undogmatisch,
vor allem gegenüber den Dogmen der undogmatischen Linken; er war
neugieriger, als es sich gewöhnlich Journalisten erlauben dürfen; in jedem
Artikel verriet eine sprachliche Wendung, ein Detail, dass er weitaus mehr
wusste und dass das Leben spannender und komplizierter ist, als es eine
Zeitung wahrhaben will.
Beharren auf Ästhetik
Sein Leben barg viele Biografien, viele
Anfänge. Bei ihm kam zusammen, was nur in Widerspruch enden kann:
Professionalität und Savoir-vivre, Engagement und Unbestechlichkeit,
Utopie und Realitätssinn - und er entschied sich allemal für das Leben,
für die Teilhabe, auch wenn es dem Journalisten nichts brachte. Für einen
Linken nicht selbstverständlich war sein Beharren auf Würde und Ästhetik.
Die Anrede Didi gestattete er später nur den Freunden.
Er konnte sich aufopfern und zugleich
dafür sorgen, dass ein guter Rotwein in Reichweite blieb. Natürlich hatte
er zu viel geraucht, ausgerechnet Gauloise. Dass man leben könnte, um vor
allem gesund zu bleiben, entzog sich seinem Verständnis. Menschen wie Didi
waren es, die die taz zum Erfolg machten und die ihr die unverwechselbare
Farbe und vor allem die innere Unabhängigkeit verschafften, obwohl es eine
linke Zeitung war, obwohl sie ständig der Gesinnungserpressung durch die
taz-Klientel, durch die "Bewegungen", durch die Basis, durch die Grünen
ausgesetzt war.
In den heroischen Gründungstagen, in
denen die Wochenenden für die "nationalen Plena" der taz-Initiativen ("Tat-Inis")
geopfert wurden und in denen sich stickige Luft mit hochideologischen
Debatten über Betroffenheit und Journalismus vermischte, passierte es
immer wieder: Didi stand einfach auf und verschwand mit einer kleinen
Gruppe Langhaariger - nicht zur Fraktionsbildung, sondern um zu reiten.
Irgendwie fand sich immer ein Reiterhof, um hoch zu Ross und in Freiheit
durchzuatmen.
Didi ließ sich nie vereinnahmen, schon
gar nicht durch Ideologen. In seinem Schreiben dominierte die Beobachtung,
auch des scheinbar Nebensächlichen, und er vermied immer die Fälschung
durch die eigene Meinung. Aber wenn es zu viel war, konnte er hart sein.
1988 warf er den Grünen vor, dass sie nur noch "den minimalen Konsens im
eigenen Mief" kennen und dass die Basis "nie bereit war, ihr
selbstgestricktes Schneckenhaus zu verlassen".
Die Grotesken linker Bewegungen konnte
er genussvoll beschreiben. Über eine Anti-IWF-Veranstaltung entfaltete er
das Gemälde aus Trillerpfeifen, "Mörder"-Rufen und Bierkonsum: "Tumult,
die ersten Mikrophone sind verschwunden, fast unbemerkt kämpft der
Steuerberater des Hauses mit großen körperlichen Einsatz um ein
Verstärkerkabel". Der Artikel schließt: "Stuttgart wird am Samstag um elf
Uhr unter einer Demonstration des IWF- und IWF-Frauenplenums erzittern."
Er war es, der bis 1989 bei allen
Prozesstagen von Stammheim anwesend war, oft über lange Strecken als
einziger Journalist. Er opferte die Tage, um persönlich Öffentlichkeit
herzustellen, obwohl er genau wusste, dass das keinen Artikel erbrachte.
Als alle deutschen Journalisten Sarajewo verließen, weil die großen
Zeitungen und Anstalten die hohen Kosten für die Versicherung ihrer
Redakteure scheuten, blieb er als Einziger.
Seine Reportagen aus den Jahren 1993,
1994 in der Zeit, im Stern und in der taz gehören zum Besten einer neuen
deutschen Journalistik. Er beschrieb eine Stadtkultur in Agonie, die
Hysterie, die Verzweiflung und den surrealen Überlebenswillen der
Bewohner; er ließ vor allem die Menschen sprechen, die hohen Militärs wie
auch die Mafiabosse, die Lebensmittelschieber wie die Hungernden, die
bedrohten Serben und die rachedurstigen Muslime. Er schrieb über die
Verbrechen der Opfer, ohne ihr Leiden zu übersehen. Er weigerte sich
konsequent, seine Beobachtung einer Unterscheidung zwischen Gut und Böse
zu opfern.
Die tragische Wirklichkeit, die er
beschrieb, passte nie in eine einfache politische Tendenz. Er bewegte sich
am gefährlichsten Punkt eines gefährlichen Ortes: zwischen den Fronten. Er
riskierte viel. Mit seinen Gesprächspartnern musste er sich vor den Salven
der Scharfschützen ducken; kriminelle Geschäftemacher nannte er mit Namen;
am Ende brachte er seine Wirtsfamilie unter Granatenbeschuss über
vermintes Gelände in Sicherheit und hatte sie dann als Gäste in seiner
Stuttgarter Wohnung.
Nicht Tollkühnheit, sondern sein
weiches Gemüt und sein mutiges Herz verwickelten ihn immer wieder ins
Abenteuer. Mit dem, was er in Sarajewo erlebte, hätten andere Bücher
geschrieben und Karrieren aufgebaut. Er tat es nicht. Er erzählte es im
Freundeskreis, mit Humor und Selbstironie.
Die Breite seiner Interessen hinderte
ihn, seine Themen auszubeuten und in mediengerechte Päckchen abzupacken.
Er ließ sich oft von den Menschen, über die er schreiben wollte, zu sehr
begeistern. Gleichwohl gelang im vieles, was nur ihm gelingen konnte. Als
Mitarbeiter der Kindersendung "Tigerente" im SWR organisierte er ein
Treffen von Kindern und Nobelpreisträgern auf der Insel Mainau. Dass die
Kinder und die Nobelpreisträger sofort eine gemeinsame Sprache fanden,
ermutigte ihn zur Kinderuniversität - ein Unternehmen, das mit großem
Erfolg in den deutschen Universitätsstädten gastiert.
Kinder vor allem gehörten zu seinem
Leben. Seine "große Tochter", wie er das erste Ziehkind nannte, liebte ihn
(und er sie) auch dann noch, als die Liebesbeziehung zur Mutter ihr Ende
gefunden hatte. Seinen beiden Ziehsöhnen war er ein aufopfernder Vater. Es
war seine Familie. Selbstverständlich engagierte er sich für ihren kleinen
Fußballverein, für den SKG Botnang, für dessen Jugendarbeit das Kranzgeld
gespendet werden soll. Das ist sein letzter Wille.
Er war ein begabter Erzähler und hatte
immer viel zu erzählen. Dort, wo er war, war die Stimmung gut. Vor allem
aber besaß er eine Gabe: die der Freundschaft. Er gehörte zu den raren
Menschen, auf die man sich als Freund immer verlassen konnte. Und hätte
man um ein Uhr nachts Geld gebraucht, ihn hätte man wecken können. Er
hätte ohne zu fragen seinen Überziehungskredit ausgeschöpft.
Politische Korrektheit in der Auswahl
seiner Freunde interessierte ihn nicht. Er war mit Abdullah Öcalan
befreundet und entdeckte, dass dessen Einfluss auf die PKK völlig
überschätzt wurde. Für seinen Freund Ibrahim Rugova bereitete er die
politischen Auftritte in Deutschland vor, ohne dass er auch nur einen
Moment den mörderischen Serbenhass der Kosovaren übersah.
Er hatte in einer ehemaligen
Elektroteile-Fabrik mit vielen Menschen zusammengelebt, in einer kleinen
Wohnung, und er hatte noch geheiratet, um seinen Ziehsöhnen Sicherheit zu
geben. Den letzten Sommer, der ihm blieb, und in seinen letzten Tagen
versammelten sich um ihn seine Großfamilie, die Frauen seines Lebens,
seine Freunde und Brüder. Und auch die Kinder waren da, die um ihren
wunderbaren Vater trauerten.
Quelle: TAZ, 16.12.2009