"Wie Euthanasie!" -
"Würdevolles Sterben!"
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© Andreas Oertzen
Robert Spaemann, 79, und Bartholomäus
Grill, 52, Anfang November in Spaemanns Haus in Stuttgart
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Der Philosoph Robert
Spaemann vergleicht die Sterbehilfe mit der NS-Euthanasie. Der
Journalist Bartholomäus Grill hat seinen Bruder in den Freitod
begleitet. Im stern-Gespräch prallen nun zwei überzeugungen
aufeinander.
GRILL: Die letzte Reise meines krebskranken Bruders zu den
Ster- behelfern von "Dignitas" nach Zürich muss für Sie eigentlich
in höchstem Maße verwerflich sein.
SPAEMANN: Über die Entscheidung eines einzelnen Menschen urteile
ich nicht, ich werde sie auch nicht verwerfen. Ich bin nicht
betroffen von einer solchen Situation. Mein Interesse beginnt
dort, wo die Dinge verallgemeinert werden, wo also nicht die Frage
gestellt wird: "Hat Ihr Bruder Recht oder Unrecht getan?",
sondern: "Sollte es solche Einrichtungen geben?" Einem Menschen,
der in Not ist, kann man diesen Ausweg nicht vorwerfen, selbst
dann nicht, wenn man einen solchen Ausweg in generalisierter Form
falsch findet.
Sie haben einmal geschrieben, dass Sie den Freitod für einen
Ausdruck verminderter Zurechnungsfähigkeit halten.
Ich habe nicht behauptet, dass jeder, der sich selbst tötet oder
sich töten lässt, nicht zurechnungsfähig sei. Wohl gibt es sehr
viele Selbsttötungen, die in einem Zustand der
Unzurechnungsfähigkeit begangen werden.
Mein Bruder hat vor seinem
Todestag alle Schmerzmittel abgesetzt, um im Vollbesitz seiner
geistigen Kräfte zu sein. Ich habe ihn noch nie so stark erlebt
wie in seinen letzten Stunden.
Ich meine, am Anfang einer solchen Entscheidung stehen
Hilflosigkeit und Schwäche. Ob dieser Weg dann ein Weg der Stärke
oder der Schwäche ist, das will ich gar nicht entscheiden.
In Ihren Veröffentlichungen gehen Sie stets davon aus, dass
alle Menschen eine fundamentale Solidarität verbindet. Wenn ich
Sie recht verstehe, haben wir, die begleitenden Geschwister, durch
unser Tun diese Solidarität zerstört. Sie postulieren weiter, dass
eine Gesellschaft barbarisch werde, wenn sie diese Solidarität
aufgebe.
Ja, so habe ich mich einmal ausgedrückt, aber das habe ich auf den
Arzt bezogen, der tötet. Ihre Sterbebegleitung war nicht ein Akt
der Entsolidarisierung.
Ich finde, wir haben die
schwierigste Solidarität überhaupt geleistet. Wir sind unserem
Bruder beigestanden. Er war sich sehr wohl bewusst, welche
Zumutung er uns da aufbürdet. Aus unserer Sicht war es nicht ein
Akt der Barbarei, sondern der Barmherzigkeit.
Ich nehme an, dass in Ihrem Fall das tatsächlich so ist, aber ich
würde nicht so einen krassen Gegensatz zwischen Barbarei und
Mitleid machen. Mitleid ist eine zweideutige Sache.
Mitleidstötungen, die man ja immer wieder erlebt, auch in
Altenheimen, geschehen oft aus "Mitleid", weil man sich nämlich
selbst das Mitleiden ersparen will. Und so meine ich, dass sich
auch eine Begleitung des eigenen Angehörigen auf diesem Weg mit
einer klaren Missbilligung dessen, was er tut, verbinden kann. Ich
habe versucht, als ich Ihre eindrucksvolle Schilderung gelesen
habe, mir vorzustellen: "Wie hättest du selber gehandelt?" Nun
sind alle diese Vorstellungen nicht sehr zuverlässig, denn man
weiß nicht, was man im Ernstfall wirklich tun würde. Aber so, wie
ich die Sache in dem Augenblick gesehen habe, als ich das las,
dachte ich: "Ja, ich könnte meinen Bruder begleiten und könnte
sagen, ich verlasse dich nicht bis zum letzten Augenblick, ich
gehe mit dir, aber du weißt, dass ich es falsch finde, was du
tust." Denn man kann jemanden auch begleiten auf einem falschen
Weg. Aber ich kann nicht sagen: "Es soll dich nicht mehr geben."
Neuere Untersuchungen zeigen, dass in der weitaus größten Zahl der
Fälle der Suizid-Wunsch verschwindet, wenn der Patient erlebt: Es
gibt jemanden, dem daran liegt, dass ich noch lebe.
Genau darüber haben wir im
Kreise der Familie immer wieder diskutiert. Am Ende aber mussten
wir entscheiden.
Was mussten Sie entscheiden?
Wir mussten entscheiden, ob wir seinen Weg billigen, um
überhaupt mitgehen zu können.
Sie hätten sich auch entscheiden können zu sagen: "Nein, wir
können das nicht billigen, aber wir gehen mit."
Lassen Sie mich noch einmal auf die Gefahren der
Entsolidarisierung durch eine freizügigere Sterbehilfe
zurückkommen ...
Die Entsolidarisierung fängt meines Erachtens da an, wo jemand die
Selbsttötung akzeptiert, weil er sagt, das erspart mir die
Aufwendungen, die auf mich zukommen, wenn der Kranke am Leben
bleibt.
Sie meinen die
explodierenden Kosten im Krankenhaus, wenn das Leben künstlich
verlängert wird.
Ja. Denn bei jeder Art von Institutionalisierung der aktiven
Sterbehilfe kommen diese Motive massiv nach vorne.
Sie befürchten also, dass aktive Sterbehilfe, wie sie zum
Beispiel in den Niederlanden oder Belgien erlaubt ist, zu einem
rein nutzbringenden Handeln führt, das nur noch von Zweckmäßigkeit
geleitet wird?
Ja, und zwar ist das nicht nur eine vage Sorge, sondern eine
Prognose, die man mit ziemlicher Sicherheit stellen kann, weil die
Menschen nun einmal so sind, wie sie sind. Man sieht doch, dass
die Tötung ohne Verlangen - also genau das, was die Nazis machten
- die Beurteilung eines Lebens als nicht lebenswert voraussetzt.
Menschen werden, ohne je danach verlangt zu haben, getötet, und
zwar in einer jährlich wachsenden Zahl. Es gibt in den
Niederlanden Fälle, in denen der Arzt sagt: Ich musste das schnell
machen, weil ich die Betten brauchte. Das ist die Realität. Und
über die kann man gar nicht hart genug sprechen.
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In seiner Reportage "Ich will nur fröhliche Musik" -
Ende 2005 in der "Zeit" veröffentlicht - beschreibt
Bartholomäus Grill den Weg seines krebskranken Bruders
in den Freitod
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Sie erinnern in Ihren
Beiträgen zur Debatte immer wieder an die NS-Zeit und verweisen
auf den fürchterlichen Propagandafilm "Ich klage an". Darin
verabreicht ein Arzt seiner an Multipler Sklerose erkrankten Frau
ein tödliches Gift und wird wegen Mordes angeklagt. Dieser Film
von 1941 ist ein zynisches Plädoyer für die Euthanasie. Sie ziehen
also Parallelen von der damaligen zur heutigen Entwicklung. Ich
kann das Wollen und Tun meines Bruders überhaupt nicht in diesen
ungeheuerlichen Zusammenhang stellen. Er selber empfand diese
Gleichsetzung als Beleidigung, ja, als Infamie.
Ich kann das aus der Sicht eines Menschen, der Sterbehilfe in
Anspruch nehmen will, nachvollziehen. Aber meine Gleichsetzung
bezieht sich doch auf die Tötung "lebensunwerten Lebens" ohne
Verlangen, und die gibt es. Wenn Sie den Film heute in einem Kino
spielen, müssten Sie vielleicht zwei Minuten rausstreichen, und
der Rest des Filmes würde großen Beifall ernten. Man würde ihn
überhaupt nicht fürchterlich finden. Denn er argumentiert fast
genau so, wie heute argumentiert wird. Er klagt eine Justiz an,
die so erbarmungslos ist, dass sie einen todkranken Menschen zum
Leben zwingt.
Auch ich halte die Praxis
der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden für höchst
problematisch. Ein holländischer Professor hat unlängst beim
Kongress der Palliativmediziner in Hamburg über die zunehmende
Zahl von Grenzfällen gesprochen und davor gewarnt, dass sich der
Prozess verselbstständigt. Dennoch halte ich Ihre Befürchtungen
für vollkommen überzogen. Ihr Vergleich ist ungeheuerlich. Ich
sehe kein Vernichtungsprogramm aufscheinen. Man kann die Barbarei
der Nazis doch nicht ernsthaft mit der umstrittenen Praxis in
Holland verknüpfen. Es ist ein fundamentaler Gegensatz, ob viele
Menschen von einer Vernichtungsmaschinerie gegen ihren Willen
systematisch ermordet werden oder ob ein Individuum die schwere
Entscheidung trifft, freiwillig seine Qualen zu beenden.
Das ist ein großer Unterschied. Aber in den Niederlanden werden
Menschen auch ohne ihren Willen getötet. Ich kann es ja auch nicht
für Zufall halten, dass der Ruf nach Legalisierung der Euthanasie
in einem Augenblick laut wird, wo wir uns auf eine enorme
Überalterung der Gesellschaft hinbewegen. Freunde weisen es
entrüstet von sich, wenn ich sage: "Es wird hier vielleicht nicht
planmäßig, aber tatsächlich ein Ausweg vorbereitet für die Lösung
eines Problems." Laut Umfragen sind zwei Drittel in Deutschland
für die aktive Sterbehilfe. Aber wenn sie in den Altenheimen
nachfragen, sind 90 Prozent der Leute dagegen, weil sie Angst
haben.
Sie halten also eine
Perversion, wie wir sie in unserer Geschichte hatten, durchaus
wieder für möglich?
Ja.
Sie haben in diesem Zusammenhang von einer "zwingenden Logik"
gesprochen, derzufolge aus dem Recht auf Sterbehilfe unvermeidlich
eine Pflicht wird. Das müssen Sie mir genauer erklären.
Wenn ich ein Recht habe und es nicht in Anspruch nehme, dann habe
ich normalerweise die Folgen dafür zu tragen, dass ich es nicht
tue. Das ist dann meine freie Entscheidung. In der gegenwärtigen
Rechtslage ist es so, dass Angehörige all die Mühen, das Geld und
die Opfer für Pflegefälle aufbringen müssen, weil sie sich in der
Solidargemeinschaft befinden. Das ist hart und bedrückend für den
Schwerkranken - aber es lässt sich nicht ändern. In dem
Augenblick, wo ich das Recht habe, meine Tötung zu verlangen,
kehrt sich die Sache um. Da kann jeder zu mir sagen: Du lädst den
anderen all diese Lasten auf, du könntest sie ganz leicht davon
befreien. In dem Augenblick wird die Verantwortungslast auf ihn
abgewälzt, er ist jetzt schuld. Ich sehe nicht, wie sich das
vermeiden ließe.
Der Opa ist zu teuer, er
soll endlich freiwillig sterben - Sie unterstellen den Angehörigen
die allerfinstersten Absichten. Im Klartext heißt das: Es kommt
bei einer liberalisierten Sterbehilfe automatisch zu einem
Dammbruch, weil die Menschen von ökonomischen Motiven geleitet
werden.
Nein, ich meine das viel schlichter. Es sind gar nicht die
böswilligen Angehörigen. Aber der Kranke muss das Gefühl haben:
Alles, was sie für mich tun, könnte ich ihnen ersparen, und zwar
auf legale Weise. Wenn ich es nicht tue, dann belädt es mich mit
einer großen Verantwortung. Und dann kann ich mir vorstellen, dass
mancher wirklich nicht mehr gerne leben möchte.
Aber es gibt doch die ausweglose Situation, in der ein
unheilbar kranker, schwer leidender Mensch einfach nur seine
Qualen beenden will. Er muss sagen können: Da ist keine Hoffnung
mehr, ich möchte sterben. Es muss die Möglichkeit geben, dass er
von seiner letzten Freiheit Gebrauch macht, die ihm noch geblieben
ist: Ich scheide aus freien Stücken aus dem Leben.
Gewiss, das ist ein anderer
Fall. Hier muss man aber unterscheiden zwischen dem Gebrauch der
eigenen Freiheit und der Inanspruchnahme anderer. Wenn ein Mensch
einen anderen Menschen in Anspruch nimmt, um sich töten zu lassen,
tritt das Gesetz der menschlichen Solidargemeinschaft, von der wir
sprachen, in Kraft. Wenn man diese Grenze durchbricht, dann hat
man einen sehr weitgehenden Schritt getan, der nicht mehr gedeckt
wird von dem Autonomierecht. Denn dieses kann sich nur auf das
beziehen, was ich selbst tue.
Absolut einverstanden - wenn es um die aktive Sterbehilfe in
Form einer tödlichen Injektion geht. Im medizinischen Alltag gibt
es nun aber viele Fälle, wo wir von einer indirekten aktiven
Sterbehilfe sprechen können. Die terminale Sedation, also die
extrem erhöhte Gabe von schmerzstillenden Mitteln unter
Inkaufnahme des Todes, ist gang und gäbe, man spricht nur nicht
darüber. Das könnte man genauso als Form der Tötung ohne Verlangen
bezeichnen.
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© Andreas Oertzen
Robert Spaemann zählt zu den
bedeutendsten deutsch- sprachigen Philosophen der Gegenwart.
Der gebürtige Berliner lehrte in Stuttgart, Heidelberg und
München
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Es gibt eine Dunkelzone,
einen gleitenden Übergang, aber hier spielt doch die Motivation
eine ganz entscheidende Rolle. Denn zunächst ist es ja nicht
Absicht, durch erhöhte Gaben von schmerzstillenden Mitteln das
Leben zu verkürzen, sondern ein schweres Leiden zu lindern.
Meistens ist es ja auch so, dass die Dosis, die in der Absicht zu
töten gegeben wird, viel stärker erhöht wird, als wenn jemand sie
in schmerzstillender -Êalso palliativer - Absicht gibt. Für die
direkte Tötung müssen Sie mehr geben, als medizinisch
gerechtfertigt ist.
Aber auch im Fall der palliativen Absicht nehmen viele Ärzte
längst in Kauf, dass der Patient sterben kann.
Man nimmt das mit Recht in Kauf, ja. Aber wir nehmen ja auch sonst
Risiken in Kauf. Der Unterschied in der Absicht muss aber doch
erkennbar bleiben. Diese Schweizer Sterbe- einrichtungen sind mir
eben doch sehr unheimlich. Ich verstehe, dass Ihr Bruder sie
aufgesucht hat. Aber wenn ich mir den Arzt vorstelle, dessen Beruf
es ist, Menschen zu töten, dann wird mir wirklich ganz schlecht.
Wo jemand eine Profession daraus macht, Menschen zu töten, da
überkommt mich ein ähnlicher Schauer, wie er die Menschen immer
überkommen hat gegenüber Henkern.
In der Schweiz gibt es die
gesetzlich erlaubte Praxis des begleiteten Freitodes schon seit
vielen Jahren, und trotzdem ist unser Nachbarland nicht zu einer
"Zivilisation des Todes" entartet. Dieses Horrorszenario, das Sie
gelegentlich heraufbeschwören, sehe ich nicht. Ich halte die
Schweiz für ein hoch kultiviertes Land mit einem ausgeprägten
Freisinn. Eine Professionalisierung des Tötens ist ausdrücklich
verboten. Die Sterbehelfer von "Exit" oder "Dignitas" erbringen
eine freiwillige Dienstleistung, hinter der kein Profitstreben
stehen darf.
Aber die Ärzte, die bei "Dignitas" tätig sind, machen das doch
professionell.
"Dignitas" besorgt das letale Schlafmittel, der Patient oder
Klient nimmt es ganz allein ein, niemand darf ihm dabei helfen.
Die Ärzte begleiten den Prozess nur und bekommen dafür kein
Honorar.
Ja, wovon leben die denn?
Von ihrer regulären
Arbeit. Bei "Dignitas" sind sie nur ehrenamtlich tätig. Wenn
Ludwig Minelli, der Leiter von "Dignitas", Gewinne aus dieser
Dienstleistung machen würde, wäre das sein Ende. Wir haben
natürlich sehr genau geprüft, was mit dem Geld unseres Bruders
passiert. Man zahlt für die Mitgliedschaft im Verein, für das
tödliche Schlafmittel, für das Krematorium und die Heimführung der
Urne. Jedes Honorar aber ist nach Schweizer Gesetz verboten.
Wenn das so ist, dann muss ich mich korrigieren.
Und es geht hier auch nicht um aktive Sterbehilfe, nicht um
eine Tötung auf Verlangen.
Weil der Betreffende das Gift selber nimmt.
Niemand darf bei der Einnahme auch nur seinen zitternden Arm
stützen.
Aber sagen Sie bitte, warum gehen denn da die Leute in die
Schweiz? Das können sie doch überall haben, wenn es keine aktive
Sterbehilfe ist. Die Weise, wie "Dignitas" und "Exit" das Gesetz
formalistisch austricksen, ist doch pure Heuchelei.
Wenn mir in Deutschland
jemand ein tödliches Gift verabreicht, so kann er das ungestraft
tun. Beihilfe zum Suizid ist hierzulande nicht verboten - solange
der Helfer nicht die Tatherrschaft übernimmt, denn dann handelte
er ja mit eigener Absicht und könnte wegen Tötung oder gar Mord
belangt werden. Nur: Wenn Sie einem Menschen beim Freitod geholfen
haben, müssen Sie anschließend sofort dafür sorgen, dass sein
Magen ausgepumpt wird - sonst machen Sie sich wegen unterlassener
Hilfeleistung strafbar. Und das ist genau die absurde Situation,
in die Sie unser Gesetz bringt. In der Schweiz ist das klar
geregelt, hierzulande werden die verzweifelten Menschen allein
gelassen, vom Gesetzgeber, von den Ärzten, von den Kirchen
sowieso.
Ich habe viele gute Freunde unter Ärzten, die in der Tat sagen:
Das gehört nicht zu unserem Beruf, wir heilen, wir retten Leben,
wenn auch nicht um jeden Preis. Ich glaube, dass der verstärkte
Ruf nach Euthanasie auch damit zusammenhängt, dass man seit
Jahrzehnten extreme Formen von Lebensverlängerung praktiziert,
über jedes vernünftige Maß hinaus. Und dann taucht die Frage auf:
"Sollte man nicht lieber ein Ende machen?" Ich habe schon vor 30
Jahren geschrieben, dass der Ruf nach Euthanasie kommen wird. Man
lässt die Leute nicht mehr in Frieden sterben. Und die Mentalität
derer, die das Leben endlos verlängern, gleicht oft denen, die
dann am Ende töten. Es soll immer etwas gemacht werden, Leben oder
Tod. Man will nicht zurücktreten und sagen, jetzt lassen wir die
Natur ihren Gang gehen.
Es gibt eben auch auf
diesem Felde massive ökonomische Interessen. Die künstliche
Verlängerung von Leben ist ja sehr profitabel.
Ja, diesen inneren Zusammenhang muss man sehen. Manchmal wird das
Leben nur in einem Fremdinteresse verlängert. Jemand wird an
Apparate angeschlossen, damit er noch lebt für den Zweck einer
Organentnahme.
Nochmals: Die Kirche lässt die Menschen in diesen Situationen
allein und stürzt sie in schwere Gewissenskonflikte. Denn wer den
assistierten Freitod vollzieht, begeht nach ihrer Lehre eine
Todsünde. Gott hat das Leben gegeben, Gott nimmt es. Man erwartet
von den Menschen, ihr Leid wie Jesus am Kreuz zu ertragen - aber
sie haben nicht die Kraft des Herrn. Was sagt man diesen Menschen?
Der Arzt, der einem Patienten sagt, es sei für ihn
lebensgefährlich, täglich 40 Zigaretten zu rauchen, stürzt auch
diesen Menschen in schwere innere Konflikte. Vielleicht kann der
Mensch nicht aufhören. Soll der Arzt deshalb sagen: "Es ist schon
gut, es ist ja nicht so schlimm"? Wenn die Kirche - in
Übereinstimmung mit Philosophen wie Sokrates, Platon, Kant und
Wittgenstein - glaubt, der Mensch schade seiner Seele durch den
Selbstmord, wieso lässt sie ihn im Stich, wenn sie ihm das sagt?
Sie würde ihn aufgeben, wenn sie es ihm nicht sagte. Sie
respektiert ja seine Freiheit, ihrer Warnung nicht zu folgen. Und
ein Seelsorger sollte ihn auch dann nicht im Stich lassen.
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© Andreas Oertzen
"Die Kirche drückt sich um antworten"
Bartholomäus Grill
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Ich kenne Fälle, in denen
Priester vor solchen Problemen davongelaufen sind.
Sie waren offenbar der Situation nicht gewachsen.
Deswegen haben viele Menschen das Gefühl, dass sich die Kirche
um Antworten drückt.
Das verstehe ich nicht. Sie gibt doch eine Antwort! Das wirft man
ihr ja gerade vor.
In Deutschland fordern nicht nur Sterbehelfer
Gesetzesänderungen, die Mehrheit der Bevölkerung ist für eine
liberalisierte Sterbehilfe.
Da würde ich entschieden widersprechen. Der Gesetzgeber schützt
die Menschen.
Aber er kriminalisiert sie in puncto Sterbehilfe.
Er kriminalisiert das Töten. Die Legalisierung des Tötens, sei es
auf Verlangen oder ohne Verlangen, öffnet eine Schleuse - mit
unabsehbaren Folgen.
Aber er kriminalisiert eben auch den assistierten Freitod.
Beihilfe zum Selbstmord ist
doch bei uns nicht strafbar. Ich bin allerdings wie Sie der
Meinung, dass diese Regelung konsequenterweise auch
reformbedürftig ist - aber in umgekehrter Richtung. Auch die
Beihilfe zum Selbstmord sollte strafbar sein.
Damit aber würden man die Betroffenen eher noch mehr
kriminalisieren als weniger.
Ja, so ist es.
In Artikel eins des Grundgesetzes heißt es: "Die Würde des
Menschen ist unantastbar." Dieser Artikel schützt uns bis zuletzt.
Das heißt, jeder Bürger hat nicht nur ein Recht auf ein
menschenwürdiges Leben, sondern auch auf ein menschenwürdiges
Sterben.
Der Artikel kann nicht schützen vor grässlichen Verletzungen und
Beeinträchtigungen durch Natur und Schicksal. Er schützt den
Menschen vor dem Menschen. Das Grundgesetz kann nicht schützen vor
dem Tod. Es schützt vor der Tötung durch Menschen. Und geschützt
werden muss auch die letzte Phase des Lebens, das Sterben. Es muss
zuerst geschützt werden gegen die fanatische Lebensverlängerung,
die es dem Menschen nicht erlaubt, zu sterben, wenn es so weit
ist.
... und die ihm die
Menschenwürde raubt.
Ja. Aber das tut auch die Tötung. Sterben ist ein Teil des Lebens,
und wir müssen es vor zwei Seiten schützen: vor den Leuten, die
Menschen zum Leben zwingen wollen, und vor jenen, die den
Sterbeprozess gewaltsam verkürzen wollen.
Dennoch muss ein schwerkranker Mensch sagen können: Ich will
nicht mehr.
Das kann er sagen, aber dann muss er abwarten. Und wenn er sich
selber töten will, dann soll er es tun. Aber er kann dabei nicht
die Hilfe anderer in Anspruch nehmen.
Ob aktive, passive oder indirekte Sterbehilfe - ich habe den
Eindruck, dass hierzulande alle Möglichkeiten unter kriminellem
Generalverdacht stehen. Dabei haben wir es im Bereich des Sterbens
und der Sterbehilfe stets mit höchst individuellen und konkreten
Schicksalen zu tun. Unsere geltenden rechtlichen und moralischen
Normen aber sind höchst allgemein und alles andere als konkret.
Allgemeine Gesetze können
niemals jeden Einzelfall wirklich erfassen. Das kann man bei
Platon schon nachlesen: Allgemeine Gesetze haben immer irgendein
ungerechtes Moment, weil sie dem Einzelfall nicht gerecht werden.
Aber was folgt daraus? Dass man die extremen Fälle verallgemeinert
und legalisiert? Oder dass man sagt: Wir müssen das einfach
hinnehmen, unvergleichliche Einzelfälle gehören zum menschlichen
Dasein? Wenn jemand aus Freundschaft zu einem Menschen ihn auf
seinem Weg nicht nur begleitet, sondern ihm aktiv behilflich ist,
dann muss er, wenn es ihm ernst ist, auch eine Strafe akzeptieren
wie das Gandhi schon vorgemacht hat. Er wird sagen: Ich habe nach
meinem Gewissen gehandelt, ich würde es auch wieder tun. Aber ich
sehe ein, dass eine allgemeine Legalisierung meiner Handlungsweise
sehr viel mehr Übel zur Folge hätte als Gutes, und darum
akzeptiere ich die Strafe. Das würde mir sehr großen Eindruck
machen.
Ein Argument oder besser, eine Prämisse, die für jeden zählt,
haben Sie einmal so niedergeschrieben: Liebe tut alles für den,
den man liebt.
Ja.
Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Denn wenn die Liebe
wirklich alles täte, dann müsste sie auch auf Verlangen töten.
Nein.
Der Bruder sagt: Tue es, wenn du mich liebst.
Dann würde ich antworten: Mein lieber Bruder, ich kann es nicht
tun. Ich kann nicht sagen: Du, mein Bruder, sollst nicht mehr
existieren. Das kann ich nicht. Alles andere: ja.
Quelle: stern-Artikel
aus Heft 48/2006
30.11.2006 - 15:00
URL:
http://www.stern.de/politik/panorama/577493.html?nv=cb
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